After Moonrise (German Edition)
glaube ich, und … das Problem ist … ich erinnere mich nicht wirklich, aber es ist da, in meinem Kopf, dieses schreckliche Bild, meine ich, und … und … ich glaube, ich war Zeuge bei einem Mord.“
2. KAPITEL
A uroraHarper, benannt nach diesem blöden Disney-Dornröschen – und jeder, der es wagte, sie bei diesem schrecklichen Namen zu nennen, machte Bekanntschaft mit dem Rasiermesser in ihrem Stiefel –, saß „ruhig“ auf der Couch ihres Nachbarn. Dieser betrachtete sie schweigend und wartete darauf, dass sie seine Frage beantwortete.
Ihre Zunge fühlte sich schwer und störrisch an, unbenutzbar, und in ihrer Kehle wuchs ein Kloß, der das Schlucken schwer machte. Sie hasste es, darüber zu reden, hasste es, darüber auch nur nachzudenken, und hätte alles darum gegeben, sich unbemerkt davonstehlen zu können und einfach in Vergessenheit zu geraten.
Nur leider würde Levi sie nicht vergessen. Nachdem sie ihm gestanden hatte, weswegen sie hier war, war er erstarrt und verstummt. Dann hatte er sie in sein Wohnzimmer geführt, sie sanft aufs Sofa gedrückt und für sich selbst einen Stuhl herangezogen. Die nächste halbe Stunde hatte er sie nach weiteren Details ausgefragt.
Sie hatte keine Ahnung, was sie von ihm halten sollte, wusste nur, dass er der markanteste Mann war, den sie je gesehen hatte. Oh ja, und jedes Mal, wenn sie in seine Richtung blickte, überkam sie das heftige Verlangen, ihn entweder weit von sich zu stoßen oder sich ihm in die Arme zu werfen und ihn für immer festzuhalten – noch wusste sie nicht, was genau.
Er hatte breite Schultern, muskulöse Unterarme und den festen Waschbrettbauch eines Unterwäsche-Models. Da er nur in schwarze Shorts gekleidet war, konnte sie die Narben an seinen Knien und Waden sehen. Er war barfuß, und seine Zehen wirkten auf merkwürdige Weise niedlich.
Sie zwang sich, den Blick zu heben. Zerzaustes schwarzes Haar umrahmte ein Gesicht, das von der Gewalt in einem Boxring oder direkt auf der Straße gezeichnet zu sein schien, auf seiner Stirn kreuzten sich weitere Narben. Seine Wangenknochen waren scharf modelliert, und seine Nase stand schief, als wäre sie mehrfach gebrochen worden. Ein Bartschatten bedeckte seine Wangen.
Die gebräunte Haut war fast bronzefarben; seine Vorfahren könnten vielleicht aus Ägypten gekommen sein. Die Augen allerdings … sie waren ganz hellgrün, wie Smaragde, die man als wertvollste Schätze bei einem Sammler finden könnte. Lange schwarze Wimpern rahmten diese Juwelen ein, fast feminin, so hübsch sahen sie aus.
Nicht das einzig Hübsche an ihm, dachte sie dann. Seine Lippen waren sinnlich und rosig; die Art, von der ihre Mitbewohnerin Lana sagte, sie würde „dafür töten … sie am ganzen Leib zu spüren.“
Okay, genug davon. Harper war nicht wegen eines Dates hier. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie sich jemals wieder mit einem Mann verabreden wollte. In den letzten Wochen war ihr schon der Gedanke zuwider, berührt zu werden. Vielleicht, weil sie jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, Phantomhände spürte, die über ihre Haut strichen; sie jedes Mal das Lachen eines Wahnsinnigen hörte, dem es Spaß machte, anderen Schmerz zuzufügen; sie jedes Mal den kupferartigen Geruch von Blut in der Nase hatte.
Sie hätte diese Wahrnehmungen einer zu aktiven Fantasie zuschreiben können, aber … manchmal schlief sie in einem Zimmer ein und wachte in einem anderen wieder auf. Manchmal befand sie sich in ihrer Küche oder in ihrem Studio beim Malen, oder wo auch immer, und innerhalb eines Wimpernschlags stand sie in einem Viertel, das sie noch nie gesehen hatte.
Diese Blackouts machten ihr Angst, erfüllten sie mit regelrechter Panik, und jedes Mal, wenn sie merkte, dass sie an einem neuen Ort war, malte ihr Unterbewusstsein sich schreckliche Dinge aus, ließ sie Blut sehen und füllte ihre Ohren mit Schreien … schrecklichen schmerzerfüllten Schreien.
Es schien ihr dafür nur eine einzige passende Erklärung zu geben: Sie war Zeugin eines Mordes geworden, hatte diesenSchock aber verdrängt. Außer wenn sie malte, denn dann erschienen vor ihrem inneren Auge verschwommene Schrecken, die nie jemand ertragen müssen sollte. Nein, ein Mord, den sie unwissentlich beobachtet hatte, war die einzige Erklärung. Entweder das, oder der Wahnsinn hatte ihren Verstand angefressen, und man sollte sie zu ihrem eigenen Besten wegsperren.
„Kleines, ich hab dir eine Frage gestellt und will eine Antwort.“
Levis
Weitere Kostenlose Bücher