Afterdark
normaler Typ, oder?«, sagt Kamille.
»Die am normalsten aussehen, sind die Abartigsten«, sagt Kaoru und reibt sich das Kinn. »Weil sie Stress haben.«
Der Mann vergewissert sich mit einem Blick auf seine Armbanduhr, wie spät es ist, und nimmt, ohne zu zögern, den Schlüssel von 404. Dann geht er rasch zum Aufzug und verschwindet aus dem Blickfeld der Kamera. An dieser Stelle hält Kaoru das Bild an.
»Ist euch irgendwas aufgefallen?«, fragt sie die beiden.
»Er sieht aus wie ein gewöhnlicher Büroangestellter«, sagt Kamille.
Kaoru sieht sie empört an und schüttelt den Kopf. »Also, das brauchst du mir wirklich nicht extra zu sagen. Wenn einer um diese Zeit einen Geschäftsanzug und Krawatte trägt, ist er natürlich ein Angestellter auf dem Heimweg vom Büro.«
Tschuldigung«, sagt Kamille.
»Er wirkt, als hätte er Routine«, schildert Grille ihren Eindruck. »Er kennt sich aus. Er zögert überhaupt nicht, oder?«
Kaoru pflichtet ihr bei. »ja, er nimmt sofort den Schlüssel und geht zum Fahrstuhl - schnurstracks, ohne eine überflüssige Bewegung. Er sieht sich nicht mal um.«
Kamille: »Das heißt, er war nicht zum ersten Mal hier.« Grille: »Sozusagen ein Stammgast.«
Kaoru: »Vielleicht. Und einer, der sich öfter auf diese Weise Frauen kauft.«
Kamille: »Und Chinesinnen sind seine Spezialität.«
Kaoru: »Hm, das Hobby haben viele. Aber wenn er Angestellter ist und schon mehrmals hier war, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er in einem Büro in der Nähe arbeitet.«
Kamille: »So wird's sein.«
Grille: »Und er arbeitet hauptsächlich nachts.«
Kaoru sieht Grille verdutzt an. »Wie kommst du darauf? Er könnte doch auch nach der Arbeit etwas getrunken haben, dann kommt er in Stimmung und kriegt plötzlich Lust auf eine Frau.«
Grille: »Aber er hatte nichts dabei. Er hat seine Sachen in der Firma gelassen. Wenn er von hier nach Hause gehen wollte, hätte er doch irgendetwas dabei, eine Tasche oder Aktenmappe oder so. Pendler sind nie mit leeren Händen unterwegs. Das heißt, er geht von hier wieder ins Büro und arbeitet weiter. Das ist meine Meinung.«
Kamille: »Er arbeitet mitten in der Nacht in seiner Firma?«
Grille: »Es gibt gar nicht so wenige Leute auf der Welt, die bis morgens im Büro bleiben und arbeiten. Besonders die, die mit Computersoftware zu tun haben, machen das oft. Nachdem alle anderen ihre Arbeit beendet haben und nach Hause gegangen sind, wenn keiner da ist, können sie ganz ungestört mit dem System herumspielen. Denn wenn alle arbeiten, ist das ganze System belegt, und sie können nicht daran arbeiten. Also bleiben sie bis zwei, drei Uhr und fahren dann mit dem Taxi heim. Die Quittung reichen sie dann bei der Firma ein.«
Kamille: »Hm, jetzt, wo du das sagst, finde ich, sein Gesicht sieht wirklich irgendwie nach Computerfreak aus. Aber woher weißt du so was eigentlich, Grille?«
Grille: »Ich hab doch früher selbst in einer Firma gearbeitet, als ganz biedere, ordentliche Büroangestellte.« Kamille: »Ernsthaft?«
Grille: »Klar ernsthaft, ich habe ganz brav in einer Firma gearbeitet.«
Kamille: »Ach? Aber wieso ... «
»He, hört mal auf«, kommt es gereizt von Kaoru. »Es geht hier um was anderes. Geschichten aus der Vergangenheit könnt ihr euch bitte woanders erzählen.«
Kamille: »Entschuldige.«
Kaoru kehrt zu der Sequenz von 22:52 zurück und lässt sie noch einmal ablaufen. An einer geeigneten Stelle hält sie das Bild an und vergrößert stufenweise den Ausschnitt mit dem Gesicht des Mannes. Dann druckt sie ihn groß und in Farbe aus.
Kamille: »Toll.«
Grille: »Was man alles machen kann! Wie in Blade Runner, oder?«
Kamille: »Total praktisch. Wenn man sich's überlegt, ist die Welt ganz schön unheimlich. Man kann nicht mal einfach so in ein Love Hotel gehen.«
Kaoru: »Deshalb stellt ihr draußen mal besser nichts Schlimmes an. Heutzutage weiß man nie, wo's eine Kamera gibt.«
Kamille: »Im Himmel, auf der Erde, überall gibt's Digitalkameras.«
Grille: »Und ob. Man muss wirklich aufpassen.«
Kaoru druckt von dem Bildausschnitt fünf Exemplare aus. Nun betrachten die drei das Gesicht in aller Ruhe und ganz genau.
Kaoru: »Es ist ein bisschen körnig wegen der Vergrößerung, aber man kann's doch ganz gut erkennen, oder?«
Kamille: »Doch, wenn ich ihm jetzt auf der Straße begegnen würde, würde ich ihn erkennen.«
Kaoru überlegt. Dabei dreht sie den Hals hin und her, dass es nur so knackt. Dann hat sie eine
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