Afterdark
Was soll da Eile?«
»Der Mann ist ganz schön schräg«, sagt Kaoru.
»In der Nacht vergeht die Zeit auf ihre Weise«, sagt der Bartender. Geräuschvoll reißt er ein Streichholz aus einem Briefchen an und zündet sich eine Zigarette an. »Es ist zwecklos, sich dagegen zu wehren.«
»Mein Großvater hatte auch viele Schallplatten«, erzählt Mari. »Und er sagte, der Klang von CDs gefalle ihm überhaupt nicht. Er hatte fast nur Jazzplatten. Wenn ich ihn besucht habe, hat er mir oft welche vorgespielt. Ich war noch zu jung, um die Musik zu verstehen, aber ich mochte den Geruch der alten Plattenhüllen und das Kratzen, wenn er die Nadel aufsetzte.«
Der Bartender nickt wortlos.
»Mein Großvater war auch derjenige, der mich auf den Film von Jean-Luc Godard aufmerksam gemacht hat«, sagt Mari zu Kaoru.
»Du hast deinen Großvater sehr gern gehabt, was?«, fragt Kaoru.
»Ziemlich«, sagt Mari. »Er war Universitätsprofessor, aber auch ein Lebemann. Vor drei Jahren ist er plötzlich an einem Herzanfall gestorben.«
»Kommen Sie wieder vorbei, wenn Sie Zeit haben. Außer sonntags haben wir täglich ab neunzehn Uhr geöffnet«, sagt der Bartender.
Mari bedankt sich, nimmt eins von den Streichholzbriefchen, die auf der Theke liegen, und steckt es in ihre Jackentasche. Dann rutscht sie von ihrem Barhocker. Die Nadel folgt den Rillen der Platte. Das träge, sinnliche Stück von Ellington. Die Musik der Nacht.
01:56 Uhr
»Sky Lark« steht auf dem großen Neonschild. Durch die Scheibe blickt man in das hell erleuchtete Restaurant. An einem Tisch sitzt eine lärmende, lachende Gruppe - wahrscheinlich Studenten. Es geht hier viel lebhafter zu als bei »Denny's«. Die tiefe Dunkelheit der Nacht kann nicht bis hierher vordringen.
Mari wäscht sich auf der Toilette die Hände. Ihre Mütze hat sie jetzt nicht mehr auf, die Brille auch nicht. Aus den Lautsprechern an der Decke tönt leise ein alter Hit der Pet Shop Boys, Jealousy. Ihre voluminöse Schultertasche hat sie neben dem Waschbecken abgestellt. Ausgiebig wäscht sie ihre Hände mit der bereitstehenden Flüssigseife. Sie scheint irgendetwas Klebriges wegzuwaschen, das ihr zwischen den Fingern haftet. Mitunter hebt sie den Blick, um ihr Gesicht im Spiegel zu betrachten. Sie dreht den Wasserhahn ab, inspiziert ihre Finger im Licht und trocknet sie gründlich mit einem Papierhandtuch ab. Dann bringt sie ihr Gesicht nahe an den Spiegel heran. Als erwarte sie, dass etwas geschieht. Sie schaut genau hin, damit ihr auch nicht die kleinste Veränderung entgeht. Aber es tut sich nichts. Beide Hände auf dem Waschbecken, schließt sie die Augen, zählt und öffnet sie dann wieder. Erneut nimmt sie ihr Gesicht genau in Augenschein, doch es hat wirklich keine Veränderung darin stattgefunden.
Ordnend fährt sie sich kurz mit der Hand durch die Haare über der Stirn. Sie glättet die Kapuze des Parkas, den sie unter ihrer Stadionjacke trägt. Dann beißt sie sich auf die Lippen und nickt mehrmals heftig, wie um sich Mut zu machen. Gemeinsam mit ihr beißt sich auch ihr Spiegelbild auf die Lippen und nickt mehrmals heftig. Sie hängt sich ihre Tasche über die Schulter und verlässt den Waschraum. Die Tür fällt hinter ihr zu.
Die Kamera, die als unser Auge fungiert, verweilt noch einen Augenblick im Waschraum. Mari ist nicht mehr dort. Niemand ist dort. Aus einem Lautsprecher an der Decke tönt mittlerweile ein Stück von Hall and Oats. I can't go for that. Doch bei genauem Hinschauen ist über dem Waschbecken noch Maris Spiegelbild zu sehen. Mari sieht uns aus dem Spiegel an. Mit ernstem Blick, als erwarte sie, dass etwas geschieht. Doch auf unserer Seite ist niemand. Nur ihr Bild ist im Spiegel des Waschraums im »Sky Lark« zurückgeblieben.
Es wird dunkel. In der sich vertiefenden Dunkelheit ertönt I can't go for that.
6
02:18 Uhr
Das Büro des Hotels »Alphaville«. Kaoru sitzt mit angeekeltem Gesicht vor dem Computer und sieht sich auf dem Monitor die Aufnahmen der Überwachungskamera im Eingangsbereich an. Sie sind scharf. In einer Ecke des Bildschirms steht die Uhrzeit. Kaoru gleicht sie mit Zahlen ab, die sie auf einem Blatt notiert hat, und lässt das Bild schneller laufen oder hält es an. Anscheinend kommt sie nicht besonders gut vorwärts. Hin und wieder schaut sie zur Decke und seufzt.
Kamille und Grille betreten das Büro.
»Kaoru, was tust du da?«, fragt Kamille.
»Du machst so ein bedenkliches, ernstes Gesicht«, sagt Grille.
Kaoru starrt weiter
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