Afterdark
und sieht Kaoru an. »Was >und?«
»Wozu gibst du mir diese Bilder?«
»Ich dachte, ihr hättet sie möglicherweise gern. Willst du sie nicht?«
Ohne zu antworten, öffnet der Mann den Reißverschluss seiner Jacke und steckt die Bilder gefaltet in eine Art Brustbeutel. Dann zieht er den Reißverschluss wieder bis zum Kinn zu. Während der ganzen Zeit sieht er Kaoru ins Gesicht. Nicht einen Moment lang lässt er sie aus den Augen.
Der Mann versucht zu ergründen, ob Kaoru über zusätzliche Informationen verfügt. Aber er fragt nicht von sich aus. Ohne seine Haltung zu ändern, wartet er schweigend ab. Ihrerseits mustert Kaoru den Mann kalt und mit verschränkten Armen. Sie gibt nichts weiter preis. Erstickende Feindseligkeit breitet sich aus. In einem genau bemessenen Moment räuspert Kaoru sich und bricht das Schweigen.
»Könnt ihr mir Bescheid sagen, wenn ihr den Kerl erwischt habt?«
Der Mann umschließt mit der linken Hand den Lenker und legt die rechte fest auf den Helm.
»Wir sollen dir Bescheid sagen?«, wiederholt der Mann mechanisch.
»Genau.«
»Einfach nur Bescheid sagen, das reicht?«
Kaoru nickt. »Kurz zuflüstern genügt. Sonst will ich nichts wissen.«
Der Mann überlegt eine Weile. Dann klopft er zweimal hart mit der Faust auf den Helm.
»Wenn wir ihn finden, sagen wir es dir.«
»Ich warte darauf«, sagt Kaoru. »Schneidet ihr eigentlich noch Ohren ab?«
Der Mann verzieht ein wenig die Lippen. »Leben hat man nur eins. Ohren zwei.«
»Kann schon sein, aber wenn man nur noch eins hat, kann man keine Brille mehr tragen.«
»Wie unpraktisch«, sagt der Mann.
Damit ist das Gespräch beendet. Der Mann setzt den Helm auf, tritt das Pedal, wendet und fährt davon.
Kaoru und Kamille stehen auf dem Gehsteig und schauen lange wortlos in die Richtung, in die das Motorrad verschwunden ist.
»Der Mann ist wie ein Gespenst«, sagt Kamille schließlich. »Um diese Zeit ist Geisterstunde, da kommen die Gespenster eben raus«, antwortet Kaoru.
»Beängstigend, oder?«
»Ja.«
Die beiden gehen ins Hotel zurück.
Kaoru ist allein im Büro und hat beide Beine auf den Schreibtisch gelegt. Noch einmal nimmt sie das ausgedruckte Porträt in die Hand und betrachtet es. Eine Nahaufnahme vom Gesicht des Mannes. Kaoru gibt ein tiefes Knurren von sich und blickt zur Decke.
7
02:43 Uhr
Ein Mann sitzt allein am Computer und arbeitet. Es ist der Mann, den die Überwachungskamera im Hotel »Alphaville« aufgenommen hat. Der Mann im hellgrauen Trenchcoat, der den Schlüssel zu Zimmer 404 genommen hat. Er tippt blind, und seine zehn Finger gleiten mit erstaunlicher Geschwindigkeit über die Tastatur, dennoch können sie seinen Gedanken kaum folgen. Seine Lippen sind fest zusammengepresst, sein Gesichtsausdruck bleibt unverändert. Er lächelt nicht, wenn ihm etwas gelingt, wirkt aber auch nicht enttäuscht, wenn es ihm misslingt. Die Ärmel seines Hemds hat er bis zu den Ellbogen aufgekrempelt. Der oberste Knopf ist geöffnet und die Krawatte gelockert. Wenn nötig, notiert er Zahlen und Symbole auf einem Blatt neben sich. Dazu benutzt er einen langen, silbernen Bleistift mit Radiergummi. Ein Firmenname - VERITECH - steht darauf. Sechs weitere von diesen silbernen Bleistiften liegen säuberlich in einer Schale aufgereiht. Alle sind nahezu gleich lang und äußerst spitz.
Der Raum ist groß. Alle Kollegen sind bereits nach Hause gegangen, er ist ganz allein im Büro. Aus dem kleinen CD-Spieler auf seinem Schreibtisch ertönt in gedämpfter Lautstärke Klaviermusik von Bach. Die Englische Suite, gespielt von Ivo Pogorelitsch. Im Raum ist es dunkel, nur die Umgebung des Schreibtischs wird von einer Neonröhre an der Decke beleuchtet. Die Szene mutet an wie ein Bild von Edward Hopper mit dem Titel Einsamkeit. Allerdings fühlt sich der Mann in dieser Situation sicher nicht sonderlich einsam, eher ist er dankbar, dass niemand um ihn herum ist. Er kann ungestört und konzentriert arbeiten und dabei seine Lieblingsmusik hören. Seine Arbeit ist ihm in keiner Weise zuwider. Wenn er sich auf die Arbeit konzentriert, kann er zumindest reale Aufgaben erledigen, ohne sich um alltägliche Kleinigkeiten zu kümmern. Und wenn er keine Zeit und Mühe scheut, kann er alle Schwierigkeiten logisch und analytisch beseitigen. Halb unbewusst dem Strom der Musik folgend, starrt er mit scharfem Blick auf den Bildschirm und bewegt die Fingerkuppen in einem Tempo, das nicht einmal von Pogorelitsch überboten wird. Keine seiner
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