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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Straßenlaternen flackerten summend auf – und verrieten, wo sie war.

Provinz Kabul
Kabul
Karta-i-Seh-Viertel
Boulevard Darulaman
Am selben Tag
    Nach der Verhaftung des desertierten Offiziers hatte Leo stundenlang Opium geraucht, um eine beinahe unerträgliche Ruhelosigkeit zu unterdrücken. Die völlig abwegigen Pläne der beiden Liebenden erinnerten ihn nicht nur an seinen eigenen gescheiterten Versuch, nach New York zu kommen, sondern auch an die Reise, die er einmal mit Raisa unternommen hatte, durch die Sowjetunion und bis nach Budapest. Als er gesehen hatte, wie entschlossen, wenn auch töricht, dieses junge Paar war, musste er sich fragen, ob er den Traum begraben hatte, eines Tages den Mord an Raisa aufzuklären. Er dachte an die Beschränkungen, die man ihm auferlegt hatte. Er konnte Afghanistan nicht verlassen, ohne das Leben seiner Töchter in Moskau zu ruinieren. Außerdem hatte er Fjodor und Ara die Wahrheit gesagt: Der Weg nach Pakistan würde sie vor unüberwindliche Schwierigkeiten stellen. Die Straßen wurden vom sowjetischen Militär kontrolliert, in der Luft patrouillierten Kampfflugzeuge und Hubschrauber, während in den Bergen und auf den Fußwegen die afghanischen Aufständischen regierten, die jeden Russen sofort erschießen würden, ob er desertiert war oder nicht. Am Ende hatte das Paar es nicht einmal aus Kabul heraus geschafft. Trotzdem besaß ihr Scheitern etwas Hehres. Eine gewisse Romantik konnte er ihrem Vorhaben nicht absprechen. Er dachte an Elena: In einen solchen Plan hätte sie sich vielleicht auch verwickeln lassen, wenn sie in Kabul geboren wäre.
    Versunken in diesen Gedanken bemerkte er allmählich ein Geräusch, ein gehetztes Klopfen an der Tür. Er blieb langgestreckt auf dem Bett liegen, ohne seine Pfeife zu senken, und fragte sich, ob das Geräusch echt oder nur eingebildet war. Er hatte nicht vor aufzustehen, es genügte ihm, einfach abzuwarten. Dann klopfte es wieder, dieses Mal noch hektischer, und ein Schrei ertönte. Er stammte von einer Frau. Leo nahm einen tiefen Zug, blieb völlig reglos liegen und hielt den kostbaren Rauch in der Lunge. Er stand nicht auf, öffnete nicht die Tür, er rührte sich nicht einmal. Die Stimme rief seinen Namen.
    – Leo Demidow!
    Er atmete aus, sah den Formen aus Opiumrauch nach, dann kratzte er sich an der unrasierten Wange und entschied, die Frau sei doch echt und nicht nur Einbildung. Lustlos rief er:
    – Es ist offen.
    Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Die Frau hatte ihn nicht gehört. Sie klopfte wieder. Es kostete ihn ungeheure Anstrengung, lauter zu rufen.
    – Es ist offen.
    Die Tür flog auf, und eine Frau stürzte herein, voller Dreck und Schmutz. Sie schlug die Tür zu und schloss ab, bevor sie als weinendes Häufchen Elend zusammensackte. Mit zerzaustem Haar, das ihr wild ins Gesicht hing, blickte sie zu Leo auf. Es war Nara Mir, seine vielversprechendste Schülerin.
    Obwohl sie nur wenige Schritte von ihm entfernt hockte, verdreckt und voller Schrammen, und direkt mit ihm sprach – eine bemitleidenswerte Gestalt, die in jedem normalen Mann Mitleid erweckt hätte –, spürte Leo keine Verbindung zu ihr. Es fühlte sich beinahe an, als wäre er untergetaucht und würde durch Wasser zu ihr aufblicken. Sie gehörten in verschiedene Welten: Seine Welt war warm und ruhig, ihre aufgewühlt und kalt. Was er spürte, war nicht Gleichgültigkeit oder herzlose Missachtung. Er wollte wissen, was sie sagte und was geschehen war. Als der Kick von seinem letzten Zug einsetzte, atmete er tief durch die Nase ein und stellte sich vor, dass Gott, falls er existierte, die Menschen so betrachtete wie er jetzt Nara, als distanzierter Beobachter, der abwartete, wie sich die Dinge entfalteten.
    Leo schloss die Augen.
    *
    Nara verstummte. Ihr Mentor, der unergründliche Leo Demidow, der Mann, an den sie sich in ihrer Not gewandt hatte, hatte einen Blick auf sie in ihrem jämmerlichen Zustand geworfen und war eingeschlafen. Er hatte sie nicht in die Arme geschlossen und mit dem Versprechen getröstet, dass er sie beschützen würde. Ihr Lehrer ließ sie auf dem Boden hocken, blutverschmiert und verschrammt, ohne ihr Hilfe anzubieten oder auch nur Anteil zu nehmen. Seltsamerweise wirkte es beruhigend, dass er sich nicht um sie kümmerte. Es machte sie mit Abstand zum kompetentesten Menschen im Zimmer.
    Sie stand auf, ging zum Bett und betrachtete ihren Mentor. Aus seiner offenen Hand ragte eine Pfeife, sein Kopf und sein

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