Agent 6
Handfläche, auf der sich eine rote, schmerzende Blase gebildet hatte. Sein zerbrechlicher Opiumpanzer bekam Risse. Als der Schmerz und der behagliche Opiumrausch aufeinanderprallten, wurde ihm schlecht. Er rappelte sich auf, unsicher schwankend stand er mit den Füßen in zwei verschiedenen Welten: mit einem im Reich der Opiate, mit dem anderen in der echten Welt, in der es Schmerz und Trauer und Verlust gab. Er lehnte sich gegen die Wand, aber die Übelkeit nahm noch zu. Dann ging er zum Waschbecken und hielt die Hand unter das kalte Wasser. Die Schmerzen kamen und gingen, nur um noch stärker zurückzukehren.
Leo zog die Hand unter dem kalten Wasserstahl hervor und schaffte es, die Übelkeit zu unterdrücken. Dann wandte er sich wieder seinem Zimmer zu, betrachtete die Verletzungen seiner Schülerin und reimte sich zusammen, was passiert sein musste, bevor sie zu ihm gekommen war. Sie war nicht vollständig angezogen, und er deutete auf seine wenigen Kleidungsstücke, die verstreut auf dem Boden und dem einzigen Stuhl lagen.
– Nehmen Sie sich, was Sie brauchen.
Während sie seine spärliche Garderobe durchging, fragte er:
– Wer hat Ihnen das angetan?
Bevor sie antworten konnte, wurde es in der Wohnung dunkel. Der Strom war ausgefallen.
Leo warf einen Blick auf die Stadt. Nebenan brannte das Licht noch, seine Nachbarn hatten Strom. Jemand musste das Kabel zu seiner Wohnung durchgeschnitten haben. Er sah hinunter auf die Straße. Dort standen mindestens zehn Menschen.
– Wer sind die Leute?
– Ich weiß es nicht. Zwei Männer haben mich zu Hause überfallen. Einen habe ich verletzt, der andere hat mich verfolgt.
– Haben die Männer etwas zu Ihnen gesagt?
– Sie haben herausgefunden, dass ich für die Geheimpolizei arbeite.
Nachdenklich untersuchte er seine Brandblase. Nara trat in seiner weiten, grauen Hose zu ihm. Sie fragte:
– Haben Sie eine Pistole?
Als er den Kopf schüttelte, konnte er ihr ansehen, wie sie kurz die Fassung verlor, die Gesichtszüge entglitten ihr. Zum ersten Mal klang sie hilflos.
– Was sollen wir machen?
Leo wusste, dass seine Zeit in Afghanistan nicht zählen würde, falls der Mob in das Haus einbrach. Die Männer würden ihn ohne zu zögern töten, für sie wäre er nicht anders als die Soldaten, die gerade erst in den Uniformen der Roten Armee eingetroffen waren.
Etwas krachte laut gegen die Holztür. Nach einem zweiten schweren Schlag zog sich eine weiße, gezackte Linie durch das Holz. Nur noch Sekunden, dann würden sie in der Wohnung sein.
Leo hob die Matratze hoch und lehnte sie gegen die Tür. Davor häufte er die Bettlaken und seine Bücher auf. Er zerbrach seinen einzigen Stuhl und trat die Holzteile auf den Stapel. Als er sich nach weiteren Dingen umsah, die er verbrennen konnte, fiel sein Blick auf die unvollendeten Briefe an seine Töchter zu Hause. Es waren mindestens fünfzig Seiten, so weit beschrieben, bis er aufgegeben hatte, weil er sich nicht richtig ausdrücken konnte und den Mut verlor – seine Briefe klangen nüchtern und kühl, er beschrieb darin die Stadt oder das neue Essen, an das er sich gewöhnt hatte. Dass er seine Töchter vermisste und jeden Kummer bereute, den er ihnen bereitete, konnte er nicht in Worte fassen.
Nara schrie:
– Leo!
Die Angreifer ließen weiter Schläge auf die Tür niederprasseln. Sie waren beinahe in der Wohnung. Mit den Briefen in der Hand hob Leo die dickbäuchige, altmodische Öllampe hoch, die bei der unzuverlässigen Stromversorgung statt eines Dieselgenerators als Lichtquelle diente. Er schleuderte die Lampe gegen die Tür, sie zerbrach, das Öl lief über den Holzrahmen. Dann zündete er mit der Kerze einen Ausläufer des Öls an. Die Flamme schoss über den Boden, die Matratze hinauf und über das Holz. Die Matratze blähte sich auf und spuckte Feuer, Sekunden später standen die Laken in Flammen.
Leo packte die Ersatzflasche mit Öl und winkte Nara zum hinteren Fenster hinüber.
– Klettern Sie auf das Dach.
Das Dach bestand aus Blech über einem hölzernen Rahmen. Es würde brennen. Nara kam der gleiche Gedanke, sie fragte:
– Auf das Dach?
Leo nickte.
– Hoffen wir, dass uns jemand rettet, bevor es einstürzt.
Die Angreifer versuchten nicht mehr, die Tür aufzubrechen, das Feuer hatte sie verwirrt. Als Nara auf das Dach kletterte, sammelte Leo seine Opiumpfeife ein. Vom Fenstersims aus warf er die Ölflasche mitten in das Feuer. Das Plastik schmolz sofort. Als er Nara
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