Agent 6
ganz verlieren würde. Sie würden ihre Tochter nicht mehr sehen wollen. Nara begriff nicht, warum es keinen Kompromiss geben konnte. Ihr Vater hatte schon früher Kompromisse geschlossen, seine ganze Karriere gründete darauf. Kompromisse bildeten die Zukunft ihres Landes. Der neue afghanische Präsident hatte das verstanden. Er war in Fragen der Religion einen Kompromiss eingegangen. Viele Feinde des Staats hatten behauptet, man könnte nicht für die Demokratische Volkspartei Afghanistans arbeiten und gleichzeitig Moslem bleiben. Sie argumentierten damit, dass man im Namen des Kommunismus Moscheen bombardierte und den Koran verbrannte. Der neue Präsident hatte sich dem Islam gegenüber versöhnlich gezeigt. Selbst beim Thema Bildung für Frauen, das für große Unruhe sorgte, stammten die Argumente dafür aus dem Koran, aus der Stelle, an der die Schöpfung von Mann und Frau beschrieben wird:
Fürchtet euren Herrn, der euch aus einem einzigen Wesen erschaffen hat; aus diesem erschuf Er ihm die Gefährtin, und aus beiden ließ Er viele Männer und Frauen sich vermehren.
Das war das religiöse Fundament für die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Nara musste das ihren Eltern irgendwie klarmachen. Ihr Glaube nahm vielleicht eine andere Form an als die Frömmigkeit, die ihre Eltern anerkannten, aber er war genauso stark. Sie sah ihre Familie wie einen Mikrokosmos, wie ein Modell des ganzen Landes. Wie konnte sie daran mitarbeiten, das Land zu einen, wenn sie ihre Familie aufgab?
Nara ging zu Bett, sie war zu müde, um noch zu lesen oder zu denken. Sie wollte schlafen, die Ereignisse des Tages hatten sie erschöpft. Als sie gerade die Lampe löschen wollte, hörte sie ein Geräusch. Ihre Eltern und ihr Bruder waren nicht zu Hause. Sie waren zu Verwandten aufs Land gefahren, mit denen Nara nie zusammenkam. Ihre Verwandtschaft verkörperte die schlimmste Seite der Tradition, Nara war dort nicht einmal als Gast geduldet.
Sie hockte sich auf das Bett und öffnete ein Fenster. Ihr Haus stand an einem steilen Hügel, die Wohnung lag im obersten Stockwerk. Sie spähte in die Gasse hinunter, in der sie ihre Lehrbücher versteckte. Es war nichts zu sehen. Dann hörte sie das Geräusch wieder. Es war ein Knarren. Und es kam aus ihrem Haus.
Sie stand auf, verließ ihr Zimmer und ging auf nackten Füßen leise zur Vordertür. Ihre Wohnung erreichte man über eine schmale, gemauerte Treppe. Wenn jemand auf die Stufen trat, knarrte der hölzerne Türrahmen. Normalerweise hatte Nara keine Angst, wenn sie allein war. Am Fuß der Treppe versperrte ein Sicherheitstor den Weg, ein Gitter aus dicken Stahlstreben mit einem Vorhängeschloss. Kein Einbrecher würde es bis zu ihrer Tür schaffen. Nara trat näher und drückte ein Ohr gegen das Holz. Sie wartete.
Plötzlich wurde die Tür zerschmettert. Von der Wucht des Schlages, vielleicht auch aus Schreck, fiel Nara zu Boden. Sie blickte auf und sah zwei Männer, die zerbrochenes Holz aus dem Weg traten und in die Wohnung eindrangen. Naras Körper reagierte schneller als ihr Verstand: Sie sprang auf und wollte in ihr Zimmer laufen. Einer der Männer warf sich auf sie. Sie zog sich unter ihm hervor und bis in ihr Zimmer. Als sie sich auf die Knie erheben wollte, trat der zweite Mann zu. Solche Schmerzen hatte sie noch nie gespürt, es war, als wäre etwas in ihrem Bauch explodiert. Sie brach zusammen und rang gekrümmt nach Atem.
Der Mann starrte mit hasserfülltem Blick auf sie hinab, in der Stimme des Fremden lag so viel Wut, als würde er sie kennen.
– Du hast dein Land verraten.
Als er das sagte, ließ sich der andere Mann auf Nara fallen und drückte sie zu Boden. Er setzte sich auf ihre Brust, sein Gewicht trieb ihr die Luft aus der Lunge. Als sein Begleiter ihm Naras Schreibhefte reichte, zerriss er sie, die säuberlich geschriebenen Seiten, die Zitate von Stalin, alles, was sie von Leo Demidow gelernt hatte, wurde zerfetzt und rieselte auf sie hinab. Er versuchte, ihr eine Faustvoll Papierfetzen in den Mund zu stopfen. Sie presste die Lippen fest aufeinander. Darauf nahm der Mann sein Gewicht von ihr, linderte den Druck und ließ sich dann wieder fallen. Als sie aufkeuchte, schob er ihr das Papier in den Mund, seine Knöchel drückten gegen ihre Zähne. Der Mann, der neben ihnen stand, meinte:
– Du wolltest doch was lernen …
Nara bekam keine Luft mehr. Sie wollte dem Mann das Gesicht zerkratzen. Er schlug ihre Hände zur Seite und stopfte ihr noch mehr Papier
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