Agent 6
Körper lagen so schlaff da wie bei einer Marionette, deren Fäden durchtrennt waren. Sie roch Opium. Sie hatte nicht gewusst, dass er süchtig war, doch mit den Beweisen vor Augen schien es offensichtlich. Er war sprunghaft, geistesabwesend und unzuverlässig, aber bei einem Fremden schob man absonderliches Benehmen erst einmal darauf, dass er aus einem anderen Land kam.
Sie fasste sich und überdachte ihre Lage. Sie war in einem Haus hinter einer verschlossenen Tür. Wären die Straßenlaternen nicht angegangen, hätte sie die Wohnung vielleicht unentdeckt erreichen können. Aber so war sie die ganze Strecke über verfolgt worden und hatte ihren Angreifer nicht abschütteln können. Sie lief zum Fenster, ging in die Hocke und spähte hinaus. Statt des einen Mannes, den sie erwartete hatte, entdeckte sie draußen eine ganze Gruppe, mindestens fünf oder sechs Männer. Die Gesichter konnte sie nicht erkennen. Am Fuß der Treppe rottete sich ein wütender Mob zusammen. Der Anblick einer halbnackten Frau, die mitten in der Nacht in die Wohnung eines sowjetischen Beraters stürzte, hatte sicher die Aufmerksamkeit der Nachbarn erregt. Ihr Angreifer war nur Sekunden hinter ihr gewesen, jetzt stand er schon bei den anderen und stachelte sie an. Er würde nicht aufgeben. Sie schlossen sich zu einer Gruppe zusammen, zu einem Lynchmob, der sie beide umbringen wollte, genau wie es in Herat passiert war, wo man afghanische Frauen und sowjetische Berater hingerichtet hatte.
Nara überlegte, woher Hilfe kommen könnte. Am südlichen Ende des Boulevard Darulaman lag die sowjetische Botschaft. Sie brauchte ein Telefon. Nara kehrte zu Demidows Bett zurück. Er war immer noch weggetreten. Sie ließ ihren Lehrer dort liegen und suchte die Wohnung ab, ohne ein Telefon zu finden. Für einen Mann, der aus den Habseligkeiten eines Menschen so viel über seinen Charakter herauslesen wollte, war es seltsam, dass er so wenig besaß. In der ganzen Wohnung standen weniger Möbelstücke als in ihrem Zimmer. Wenn die Panik sie nicht blind machte, war hier nichts, das ihr helfen konnte. Sie durchsuchte die Wohnung noch einmal, weil sie dachte, sie müsste das Telefon in der Eile übersehen haben. Bei der zweiten Suche fand sie die Anschlussbuchse und starrte sie mit leerem Blick an, bis ihr klar wurde, dass er kein Telefon besaß. Das passte zu ihm. Er wollte nicht, dass jemand Kontakt zu ihm aufnahm oder ihn störte. Ihre größte Hoffnung zu fliehen hatte sich in Luft aufgelöst. Panik stieg in ihr auf, während sie sich neben ihren Mentor auf den Boden kniete und ihn heftig am Kragen schüttelte. Wenn er schon kein Telefon besaß, dann vielleicht wenigstens eine Pistole.
– Wachen Sie auf!
Er verdrehte die Augen, sie kippten wie schwere Kiesel weg, so dass kurz das Weiße zu sehen war. Nara lief zu der Küchenecke, ließ kaltes Wasser in ein schmutziges Glas laufen, kehrte zum Bett zurück und schüttete es ihm ins Gesicht.
*
Leo öffnete die Augen und berührte die Wasserspritzer auf seinem Gesicht. Er hatte vergessen, was in den letzten Minuten geschehen war, und als er seine vielversprechendste Schülerin am Fußende seines Bettes stehen sah, fragte er sich, was sie in seiner Wohnung zu suchen hatte. Sie sah ziemlich zerzaust aus. Wie lange stand sie schon dort, und woher war sie gekommen? Ihr Name fiel ihm nicht ein. Ihm war so behaglich zumute, dass er einfach nur schlafen wollte. Während ihm langsam die Augen zufielen, fragte er mit krächzender Stimme:
– Was machen Sie hier?
Sie hockte sich neben ihn. Ihm fiel auf, dass ihre Lippe blutete und sie eine Prellung an der Wange hatte. Jemand hatte sie geschlagen. Ihre Stimme klang schrill und laut, und es ärgerte ihn, dass er so gestört wurde. Sie sagte:
– Ein paar Männer wollten mich umbringen. Sie sind in mein Haus eingebrochen.
Die Opiumpfeife rollte Leo aus der Hand. Er versuchte noch, sie festzuhalten, aber er war zu langsam. Seine Schülerin rief:
– Haben Sie nicht verstanden? Die Männer sind draußen! Sie sind mir gefolgt! Wir sind in Gefahr!
Leo nickte, obwohl er nicht genau wusste, worum es ging. Während er tief Luft holte, sah er zu, wie Nara die Kerze nahm und sie unter seine ausgestreckte Hand hielt. Seine Haut begann zu verbrennen.
Er spürte etwas, das sein Gehirn langsam als Schmerz identifizierte. Ein Stück Haut warf Blasen. Er riss die Hand weg, in der schnellsten Bewegung, die er seit vielen Stunden gemacht hatte, und betrachtete seine
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