Agent 6
aufgerissen Lehmziegelwand. Es war mühsam, die Bücher aus ihrem Versteck zu holen, ohne von den Nachbarn oder den spielenden Jungen in der Gasse gesehen zu werden. Sie überlegte oft, ob sie nicht übertrieben vorsichtig war und ob ihre Ausbildung ihr Urteilsvermögen beeinflusst hatte. Aber taktisch gesehen war es sinnvoll, vorsichtig zu sein. Nachdem Naras Eltern schon über ihre Einschreibung an der Universität nicht erfreut gewesen waren, mochte sie sich kaum vorstellen, wie wütend die beiden darauf reagieren würden, dass sie jetzt für die afghanische Geheimpolizei arbeitete.
Naras Vater Memar gehörte zu den führenden Architekten des Landes. Als Leiter seines Berufsverbandes hatte man ihn zur Kontaktperson der Staatsfunktionäre gewählt und damit zu den einflussreichsten Stimmen, wenn es um größere Bauprojekte in Kabul ging. Der erfahrene Architekt, der den Titel ustad , Meister, trug, leitete ein Ausbildungsprogramm für Nachwuchskräfte, an dem auch Naras älterer Bruder teilnahm. Ihr Bruder hatte die Vorteile nicht genutzt, die ihm seine Herkunft verschafft hatte. Er war faul und verbrachte den Großteil seiner Zeit damit, auf einem frisierten Motorrad aus dem Ausland durch die Straßen von Kabul zu rasen und seine Freunde zu beeindrucken. Gutaussehend und beliebt, wie er war, interessierte er sich mehr für sein Privatleben als für das Lernen. Nara hatte man nie gefragt, ob sie an dem Programm ihres Vaters teilnehmen wollte, sie hatte auch nie eine seiner Baustellen besucht. Es blieb ihr nicht einfach verwehrt, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten, allein die bloße Möglichkeit war undenkbar. Er hatte seine Angelegenheiten nie direkt mit ihr besprochen und tat es auch jetzt nicht. Um überhaupt etwas über ihn zu erfahren, hatte sie eigene Nachforschungen anstellen müssen, hatte private Gespräche belauscht und seine Briefe gelesen – ein frühes Indiz, dass aus ihr einmal eine Spionin werden würde.
Soweit sie es herausfinden konnte, war ihr Vater Memar als junger Mann vom Land nach Kabul gezogen. Das nötige Geld hatte ihm sein eigener Vater gegeben, der mit dem Schmuggeln von Tierhäuten und Fellen von Karakulschafen über die Grenze zwischen Afghanistan und China gut verdient hatte. Memar ging nach Kabul mit dem Ziel, seine Familie zu Hause zu unterstützen. Sein Heimatdorf litt unter schlechten Ernten während einer der schlimmsten Dürren, die das Land je erlebt hatte. Weil Memar sich der etablierten Mittelschicht anpassen wollte, befürchtete er, eine konservative religiöse Einstellung würde ihn provinziell erscheinen lassen. Er war wohlhabend und gläubig, die beiden treibenden Kräfte in seinem Leben waren die Religion und das Geschäft, zwei Dinge, die nicht immer miteinander harmonierten. Sein Geschäftssinn erlaubte es ihm, Kompromisse zu schließen. Nara besuchte die Schule, weil das auch die Töchter seiner Kunden taten. Er tolerierte ihre Entscheidung, nicht den Tschador zu tragen, nur weil auch seine Kunden ihre Töchter nicht dazu zwangen. Wenn eine Tochter keinen Schleier trug, setzte das gesellschaftlich ein bedeutendes Zeichen. Das ging zurück auf das Jahr 1959, in dem Frauen aus bürgerlichen Familien zur Feier des Unabhängigkeitstages in Kabul ohne Schleier erschienen waren. Aber Nara machte sich keine Illusionen darüber, das tolerante Verhalten ihres Vaters sei mehr als eine Geschäftsstrategie. Im Herzen blieb er streng und fromm, und ihre Ausbildung war für ihn ein großes Ärgernis. Im Geschäftsleben hatte er alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte. Bei seiner Familie war ihm das nicht gelungen. Sein Sohn war ein Dummkopf und seine Tochter unverheiratet.
Nara sorgte sich oft über den Riss, der durch ihre Familie ging. Sie war nicht nur unverheiratet, es machte ihr auch niemand den Hof, nicht einmal die Söhne aus der Oberschicht, die behaupteten, sie wären Naras Bildung gegenüber aufgeschlossen. In Wirklichkeit bevorzugten selbst die liberalsten Männer eine traditionelle Frau, und sicher hatte die gebildete Ara deshalb eine Beziehung zu einem sowjetischen Soldaten riskiert. Kein anderer Mann würde sich in sie verlieben. Das Gleiche galt für Nara. Der Unterschied lag darin, dass Nara sich mit diesem Schicksal abgefunden hatte.
Nara hätte beschließen können, mit ihrer Familie zu brechen und auszuziehen. Aber bei allen Schwierigkeiten liebte sie ihre Eltern, und sie wusste, dass sie ihre Familie durch einen solchen Schritt wahrscheinlich
Weitere Kostenlose Bücher