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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Großspurigkeit hätte zur Hymne jedes autoritären Regimes getaugt. Solche vollmundigen Verkündigungen stammten von Männern, die sich an der Macht über Leben und Tod berauschten, ohne zu ahnen, dass sie sich mehr oder weniger genau wie die sowjetischen Wachen und Gefängnisdirektoren verhielten, die dreißig oder vierzig Jahre vor ihnen gelebt hatten, tausende Kilometer entfernt, umgeben von Schnee und Eis statt von Sand und Wüste. Trotz ihrer uneingeschränkten Macht besaßen sie keine Eigenständigkeit und keine eigene Persönlichkeit, als würde die Macht Besitz von ihnen ergreifen und diese Möchtegerngötter zu Marionetten degradieren.
    Als Leo anhielt, wurde Nara noch aufgeregter, sie rang die Hände. Sie öffnete das Handschuhfach. Dort lagen eine Pistole und ein Magazin. Sie klappte das Handschuhfach wieder zu. Leo befürchtete kurz, sie müsste sich übergeben. Dann sah sie Leo zutiefst verloren an.
    – Aber ich bin doch ihre Tochter.
    Leo holte seine Sonnenbrille hervor und betrachtete den Staub auf den Gläsern, sparte sich aber die Mühe, sie zu säubern. Sie waren angekommen.

Provinz Kabul
Zehn Kilometer östlich der Stadt Kabul
Pul-i-Charkhi-Gefängnis
Am selben Tag
    Das Gefängnis lag wie eine weitläufige Wüstenfestung da, umgeben von einer gelben Backsteinmauer, die, dreimal so hoch wie ein Mann, auf dem unebenen Gelände eine Reihe gedrungener Wachtürme mit pyramidenförmigen Dächern verband. Spindeldürre Wachleute in schlecht sitzenden Uniformen drückten sich mit alten Gewehren über der Schulter in den Schatten herum. Die Szene hätte aus einem amerikanischen Western stammen können, mit dem Gefängnis als Grenzposten voller Whiskey, Pulverfässer und Ställe. Leo betrachtete die Anlage durch die verschmierten Gläser seiner Fliegersonnenbrille, weniger das Gebäude an sich als die weite Fläche rund um das Gefängnis. Mitten im Nichts erhob es sich aus einer dürren Ebene, ohne einen Grund für seine Existenz an dieser Stelle: eine Festung, die nichts beschützen sollte, keinen Fluss, kein Tal, weder Erntefelder noch Menschen, als wäre sie vor Jahrtausenden erbaut worden und hätte überlebt, während der ursprüngliche Grund für ihre Entstehung vom Sand zerfressen worden war. Die Symbolik dieses abgelegenen Ortes war nicht zu verkennen, er lag geographisch und moralisch außerhalb der Zivilisation, eine ganz eigene Welt. Leo hatte gehört, hier wären fünfzehntausend Menschen hingerichtet worden, aber solchen Statistiken und finsteren Gerüchten gegenüber war er abgestumpft. Im Laufe seines Lebens hatte er schon so viele Zahlen über so viele verschiedene Gefängnisse gehört, hatte so viele Listen gesehen und hinter vorgehaltener Hand von so vielen Gräueltaten gehört. Wie die wirklichen Zahlen auch aussehen mochten, es war zumindest sicher, dass diese Männer und Frauen kein anständiges Begräbnis erhalten hatten, ihre Leichen hatte man vor den Mauern in flachen Gräbern verscharrt. Vielleicht glich das Gefängnis deshalb einer Festung, weil es die zornigen Seelen im Wüstensand bewachen sollte. Es war eine abstruse Vorstellung, und Leo hätte sie vielleicht etwas ernster genommen, wenn er je an ein Leben nach dem Tod geglaubt hätte.
    Als er die Gefängnisfestung betrat, war es, als würde er durch die großen Tore in eine mittelalterliche Burg gelassen. Und genau wie bei einer Burg bestand die ganze Anlage nur, um Macht zu erhalten. Die Mauer hatten nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Die sowjetische Besatzungsmacht hatte sofort erkannt, wie wichtig das Gefängnis war, und ebenso viele Soldaten dorthin entsandt wie zu den Kraftwerken und Ministerien. Hier wurde die Drecksarbeit erledigt, um das Regime zu schützen, hier wurden die gefährlichen Bevölkerungsteile abgefertigt. Die Sowjets hatten die Vorgehensweise des früheren Präsidenten nicht aus moralischen Gründen abgelehnt. Sie hielten willkürliche Morde für einen taktischen Fehler, der das kommunistische Regime untergrub. An einer blutigen Säuberungsaktion war nichts auszusetzen, aber sie musste klug durchgeführt werden und der Partei nützen. Es ging nicht darum, persönliche Rachegelüste zu befriedigen. Ein Mord sollte für friedlichere Verhältnisse sorgen, nicht die Bevölkerung aufrühren; er sollte die Besatzung einfacher gestalten, statt sie zu erschweren.
    Obwohl Leo die sowjetischen Soldaten nicht kannte, nickten sie ihm zu, wenn er vorbeiging, als ein Ausländer, der einen anderen grüßte. Zwischen den

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