Agent 6
sich vom Fluss weitertragen. Er fragte sich verzweifelt, warum gerade er am Leben geblieben war.
Provinz Kabul
Kabul
Polizeipräsidium
Deh Afghanan
Am nächsten Tag
Leo und Nara waren, nur Minuten bevor das ganze Dach einstürzte, gerettet worden. Mehrere Leute aus dem Mob hatten versucht, an Gebäudeteilen hinaufzuklettern, die noch nicht brannten. Sie waren so hartnäckig, dass Leo nichts anderes übrig blieb, als ihnen auf die Hände und ins Gesicht zu treten. Je mehr Flammen das Haus umhüllten, auch das Geschäft unter der Wohnung, desto weniger Versuche unternahmen ihre Widersacher. Der Mob wartete einfach darauf, dass die beiden starben. Nara hatte das Gesicht an Leos Schulter vergraben, sie konnte nicht zusehen, wie die Flammen immer näher kamen. Die Dachbleche wölbten und verzogen sich, sie wurden so heiß, dass die beiden mit ihren nackten Füßen nicht darauf stehen konnten und von einem Bein auf das andere hüpften wie spielende Kinder. Als sie kurz davor waren zu entscheiden, ob sie in die Flammen oder zwischen den Mob auf die Straße springen sollten, war eine sowjetische Militäreinheit eingetroffen, um den Tumult unter Kontrolle zu bringen.
Nachdem man ihnen vom Dach geholfen hatte, brachte man sie auf das Polizeirevier, wo sie ärztlich untersucht wurden, etwas zu essen bekamen und dann die Neuigkeiten erfuhren. Sie waren von einer Militäreinheit gerettet worden, weil über die Stadt Kriegsrecht verhängt wurde. Der Angriff auf Nara war keine Einzeltat. Alle Schüler aus Leos Ausbildungsklasse waren in einer konzertierten Aktion überfallen worden, Nara hatte als Einzige überlebt. Sämtliche Morde waren in den letzten vier Stunden begangen worden. Wenn man die Tatorte auf einem Stadtplan markierte, wurde von der Entfernung zwischen den einzelnen Angriffen klar, dass ein Täter allein nicht für alle Morde verantwortlich sein konnte. Insgesamt gab es fünfzehn Tote, neben neun Schülern auch sechs ihrer Familienmitglieder, die sich entweder den Angreifern in den Weg gestellt hatten oder als mitschuldig galten, weil sie die Ausbildung ihres Kindes gebilligt hatten. Die Morde waren äußerst brutal ausgeführt. Sie dienten einem doppelten Zweck: zu töten und gleichzeitig zu provozieren. Mehreren Opfern war die Kehle durchtrennt und die Zunge herausgeschnitten worden. Einen Mann hatte man enthauptet und ihm eine kommunistische Sichel in die Stirn geritzt. Diese Angriffe waren gegen den Aufbau einer Geheimpolizei gerichtet und gehörten zu einem Propagandakrieg, der nicht über Radiowellen ausgetragen wurde, sondern mit Blut; die Aktion war so groß und grauenhaft, dass man in der ganzen Stadt über sie redete. Sie sandte jedem, der sich mit dieser Regierung der Ungläubigen einlassen wollte, eine Botschaft – auf sie wartete der Tod. Leo konnte sich nicht damit trösten, dass er seinen Schülern immer die Wahrheit darüber gesagt hatte, wie gefährlich ihr erwählter Beruf war, und dass sie Hass ernten würden, wie sie es noch nie erlebt hatten.
Im Gegensatz zu den anderen Offizieren wirkte Hauptmann Waschtschenko weder beunruhigt noch müde, er betrat den Raum abrupt und dynamisch wie immer.
– Nara Mir, Sie haben sich sehr gut geschlagen und den Angriff überlebt. Wir sind von Ihnen sehr beeindruckt. Sie sind ein machtvolles Symbol dafür, dass wir uns nicht einfach besiegen lassen. Und da Sie als Einzige überlebt haben, sind Sie auch der Schlüssel, um diese Verbrechen aufzuklären.
Leo hob eine Hand und unterbrach:
– Nara lernt noch nicht lange Russisch. Vielleicht sollte ich übersetzen.
Der Hauptmann nickte. Nachdem Leo gedolmetscht hatte, fuhr der Hauptmann fort:
– Die Morde haben für enormes Aufsehen gesorgt. Das war wohl auch Absicht. Die ganze Stadt spricht von nichts anderem. Deshalb müssen wir dieses Verbrechen auf der Stelle aufklären. Und es dürfte kein Zufall sein, dass gleichzeitig mit den Morden an den Agenten ein waghalsiger Angriff auf den Sarobi-Staudamm stattgefunden hat. Hätte er Erfolg gehabt, wäre in der ganzen Stadt der Strom ausgefallen. Beides zusammen hätte unsere Autorität ernsthaft untergraben, wir hätten nicht mehr glaubhaft behaupten können, dass wir alles unter Kontrolle haben. Zum Glück ist der Angriff auf den Staudamm fehlgeschlagen. Wir versuchen, die Leichen der Bombenattentäter zu identifizieren.
Als sie die Übersetzung hörte, fragte Nara:
– Was ist mit dem Mann, den ich verletzt habe?
– Der wurde aus Ihrem Haus
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