Agent 6
eine Hand auf die Schulter, aber anders als seine Geste gaben ihr seine Worte keinen Halt.
– Für Sie ist ein solches Dilemma etwas Neues und Schmerzliches. Für mich ist es schon alt. Es ist wie ein Lied, das ich zu oft gehört habe. Versuchen Sie zu begreifen, dass die schreckliche Lage, in der Sie heute stecken, weder bemerkenswert noch außergewöhnlich ist, sie ist alltäglich.
Am selben Tag
Ein ganzer Flügel war für die wichtigeren politischen Gefangenen und ihre Verhöre reserviert. Die Steinböden waren sauberer, die Wachleute aufmerksamer, und die Deckenventilatoren funktionierten, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass sich in der Nähe viele sowjetische Beamte aufhielten. Sie wurden von einem Mann begrüßt, den man ebenfalls als Berater nach Afghanistan exportiert hatte. Sein Spezialgebiet war der Umgang mit Gefangenen, der Erhalt von Informationen – er war Vernehmungsbeamter.
– Ich heiße Wladimir Borowik.
Mit seiner durchschnittlichen Größe, dem graumelierten Haar und den weichen Händen wirkte Borowik so unscheinbar wie ein Bürokrat im mittleren Dienst. Er war jünger als Leo, vielleicht vierzig Jahre alt, und gab sich übertrieben unterwürfig. Das ging Leo gegen den Strich, weil letztlich so getan wurde, als hätte er, Leo, hier das Sagen. Wahrscheinlich war der Mann eher auf eine Freundschaft aus, auf einen russischen Landsmann, der ihm in dieser Stadt Gesellschaft leistete, ihm zeigte, wie er die nächsten Monate überleben sollte, wo man trinken ging und wo man Frauen fand. Nara Mir ignorierte er komplett, obwohl sie bei diesem Verhör äußerst wichtig war. Er redete auf Russisch und so schnell, dass Leo keine Zeit hatte zu übersetzen.
– Ich bin erst vor ein paar Wochen angekommen. Ich wohne auf einem Militärstützpunkt. Besonders gefällt mir das Land ja nicht. Aber die Bezahlung ist so gut, dass ich nicht nein sagen konnte. Hier verdiene ich fünfmal so viel wie zu Hause. Ich will sechs Monate schaffen, vielleicht ein Jahr, wenn ich es aushalte, und mich dann zu Hause zur Ruhe setzen. Das wäre ein Traum. Wahrscheinlich gehe ich dann nach Hause, bringe das ganze Geld in ein, zwei Monaten durch und lande wieder hier.
Nach einer Weile unterbrach Nara ihn in gebrochenem Russisch:
– Entschuldigung, ich verstehe nicht.
Leo sagte auf Dari:
– Es lohnt sich nicht, das zu übersetzen.
Der Gefängnisdirektor hatte sie unauffällig allein gelassen, er wollte mit der Sache nichts zu tun haben. Als sie sich der Zelle näherten, senkte Borowik die Stimme, als könnte sie jemand belauschen, und flüsterte Leo zu:
– Die Eltern der Frau haben nicht gefragt, wie es ihr geht, nicht ein Mal.
Er deutete mit dem Kopf auf Nara und sprach weiter.
– Ich habe ihnen erzählt, dass sie brutal überfallen wurde. Das schien sie nicht zu interessieren. Für mich steht fest, dass sie in die Sache verwickelt sind. Der Vater ist ein stolzer Mann. Meiner Erfahrung nach kann man stolze Häftlinge am leichtesten brechen.
Nara bat Leo mit einem Blick um eine Übersetzung. Leo reagierte nicht und ließ Borowik weitersprechen.
– Der Vater ist recht langweilig. Entweder ist er stumm und ernst, oder er wütet und schimpft über irgendwelche politischen Themen. Die Mutter sagt kein Wort, nicht einmal, wenn ich sie direkt etwas frage. Ich bin gespannt, wie sie auf ihre Tochter reagieren.
Er musterte Nara eingehend und fügte hinzu:
– Die ist gar nicht schlecht. Ist sie nachher wohl für etwas Spaß zu haben? Sie ist ein bisschen lockerer als die anderen Frauen hier, oder? Ich habe gehört, man kann nur was mit denen in Uniform anfangen. Die mit Mundschutz vögeln nicht, richtig?
Entnervt wollte Nara von Leo wissen:
– Was hat er gesagt?
Leo antwortete:
– Ihre Eltern kooperieren nicht.
Vor der Tür gab Borowik genaue Anweisungen, in welcher Reihenfolge sie die Zelle betreten sollten.
– Ich gehe als Erster rein, dann Sie, Nara Mir als Letzte. Zwischen Ihnen und ihr muss eine kleine Pause liegen, wenigstens eine Minute, damit ihre Eltern glauben, es würde niemand mehr kommen. Dann betritt sie die Zelle und überrascht die beiden.
Die Zelle wurde aufgeschlossen, während Leo für Nara übersetzte. Sie konnte sich kaum konzentrieren. Schließlich nickte sie knapp, um zu zeigen, dass sie ihre Rolle verstanden hatte.
Ein Wachmann öffnete die Stahltür. Borowik trat ein, Leo folgte ihm. Naras Eltern saßen nebeneinander auf zwei Stühlen. Ihre Mutter trug keinen
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