Agent 6
Tschador, ihr Gesicht war enthüllt. Beschämt beugte sie sich vornüber und starrte auf den Steinboden. Ihr Vater hatte die Hände auf die Knie gelegt und saß mit hocherhobenem Kopf da. Leo musste keine Fragen stellen. Zweifellos hatte dieser Mann den Mord an seiner Tochter entweder direkt genehmigt oder sich an der Planung beteiligt. Borowik hatte auch recht gehabt, was seinen Stolz betraf. Er strömte dem Mann aus jeder Pore.
Borowik schickte den afghanischen Dolmetscher aus der Zelle. Mit Leo im Raum wurde er nicht gebraucht. Naras Vater wirkte überrascht, aber er blieb stumm und wartete, bis jemand etwas sagte. In diesem Moment betrat Nara die Zelle, in der Tür blieb sie kurz stehen, dann kam sie herein, die Hände verlegen an den Seiten. Der Auftritt war inszeniert wie ein Laientheater, aber er verfehlte seine Wirkung nicht. Ihr Vater musterte ihre Uniform, starrte auf einzelne Details ihrer Kleidung, auf die Farben, die Symbole des neuen Regimes. Seiner Reaktion nach hatte er bereits gewusst, dass sie für die Regierung arbeitete. Er brachte seine Gesichtszüge unter Kontrolle und lehnte sich zurück.
Borowik beugte sich zu Leo.
– Fragen Sie ihn, ob er sich dafür schämt, dass er einen Angriff auf seine Tochter befohlen hat.
Leo übersetzte die Frage. Bevor ihr Vater antworten konnte, trat Nara vor.
– Vater, lass mich dir bitte helfen. Das war ein Missverständnis. Ich bin hier, um zu erklären, dass du mit den Überfällen nichts zu tun hattest. Wenn du kooperierst, können wir in ein paar Stunden hier raus sein.
Keine Androhung von Gewalt hätte ihn so treffen können wie dieses Hilfsangebot. Dass Nara so naiv sein konnte, verschlug ihrem Vater den Atem. Er fragte:
– Du würdest mir helfen?
– Vater, meine neue Arbeit ist sicher ein Schock für dich.
Verblendet spann sie das Märchen von seiner Unschuld weiter, die Geschichte, die sie sich auf der Fahrt zum Gefängnis zurechtgelegt hatte.
– Wir haben unsere Probleme. Aber ich weiß etwas, das diese Männer nicht wissen. Wir haben uns auch lieb. Ich weiß noch, wie ich deine Hand gehalten habe. Als ich klein war, hast du mich geliebt. Seit ich erwachsen bin, ist es nicht einfach. Ich hätte dir gern erzählt, dass ich rekrutiert wurde. Überleg mal – du arbeitest für die Regierung. Du entwirfst Häuser. Ich arbeite auch für die Regierung. Ich werde später unterrichten, vielleicht in einem Gebäude, das du mitgeschaffen hast.
Ihr Vater schüttelte den Kopf, es war ihm peinlich, dass seine Tochter Gefühle zeigte und von Liebe sprach. Er fand es erniedrigend und brachte sie zum Schweigen.
– Wir haben deine Bücher gefunden, deine politischen Manifeste und deine Aufzeichnungen darüber, wie man erkennt, wer ein guter Rekrut für die Regierung wäre und wer vielleicht eine Bedrohung ist. Wolltest du uns verraten? Irgendwann hättest du es getan, wenn wir etwas Falsches gesagt oder die Invasion kritisiert hätten.
Nara schüttelte den Kopf.
– Nein, niemals, ich will dir helfen.
– Du kannst mir nicht helfen. Du hast mich vernichtet. Nicht einmal eine Hure hätte eine solche Schande über unsere Familie bringen können, wie du es getan hast.
Nara stand der Mund offen. Leo sah, wie sie schwankte. Einen Moment lang sah es so aus, als müsste sie sich an der Wand abstützen. Aber sie tat es nicht. Ihr Vater sprach weiter, er spürte Schwäche, wollte sie verletzen, sein Wunsch, ihr wehzutun, war stärker als sein Selbsterhaltungstrieb.
– Ich habe dir erlaubt, zur Schule zu gehen, und das hat dich blind gemacht. Du siehst nicht, was in deinem eigenen Land vor sich geht. Es wurde besetzt. Es wurde uns vor unseren Augen gestohlen, und du feierst das noch.
Immer noch unter Schock klammerte sich Nara an eines ihrer früheren Argumente, ihr Vater sei ein Erbauer, ein Erschaffer, kein Terrorist.
– Du arbeitest für die Regierung. Du bist ein Architekt.
– Soll ich dir sagen, was ich von der Geschichte der Häuser um uns gelernt habe? Vor über hundert Jahren haben die britischen Invasoren den uralten Char-Chata-Basar zerstört, aus Rache für den Mord an ihrem Abgesandten. So wiegen die Besatzer das Leben von einem ihrer Leute gegen unser Land auf. Eine ganze Stadt ist nicht so viel wert wie einer ihrer Offiziere, sie würden sie dem Boden gleichmachen. Für die Sowjets wird das Gleiche gelten, weil hier nicht ihre Heimat ist, es ist nicht ihr Land, sie können immer in ihre Städte und zu ihren Familien
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