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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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verschiedenen Nationalitäten bestand solche Kameradschaft nicht, die afghanischen und die sowjetischen Soldaten blieben für sich, sie trennte nicht nur die Sprache, sondern auch ein tiefes Misstrauen. Vor gerade einmal drei Monaten war das Pul-i-Charkhi noch von einem tyrannischen Präsidenten kontrolliert worden, der von den Sowjets erschossen wurde. Auch einige seiner Stellvertreter waren gestorben, aber viele Wachleute waren noch dort und unterstanden jetzt einer neuen Führungsebene. Nach wenigen Minuten zählte Leo schon drei verschiedene Gruppen: die sowjetischen Truppen, die neuen afghanischen Wachleute und die Überreste der alten Wachmannschaft. Hätte er einen Bericht darüber verfassen sollen, hätte er gesagt, dass eine Revolte wahrscheinlich war. Korruption, Verrat und feindliche Informanten waren unausweichlich. Er hätte empfohlen, sofort sowjetische Verstärkung zu schicken und das ganze Gefängnis zu übernehmen. Dieses instabile Flickwerk aus Abhängigkeiten setzte sich bei Armee und Polizei fort. Leo kannte Militärberater, die als einzige Lösung sahen, alles von den Sowjets erledigen zu lassen. Integration und Zusammenarbeit waren Märchen, mit denen Politiker hausieren gingen, die keine weiteren Truppen einsetzen wollten.
    Nara hatte sich einigermaßen gefasst, sie hatte Angst, in dieser harschen, unfreundlichen Umgebung schwach zu wirken. Soweit Leo es überblicken konnte, war sie die einzige weibliche Agentin. Hunderte Blicke folgten ihr in einer Mischung aus Lust und Verachtung. Den Weg zeigte ihnen ein extrem unterwürfiger Gefängnisdirektor, der seinen Posten vor Kurzem vom Regime erhalten hatte und sich sehr bemüht gab. Er berichtete, welche Änderungen er im Gefängnis vorgenommen hatte, und wies auf einige Einzelheiten hin, darunter auf die gesäuberte, verbesserte Küche, die einfaches, aber gesundes Essen zubereitete. Leo bemerkte:
    – Es ist nicht schwierig, besseres Essen anzubieten, wenn die Gefangenen früher nichts bekommen haben.
    Der Direktor wirkte überrascht, dass Leo nicht nur Dari verstand, sondern auch Witze in der Sprache machen konnte. Er lachte laut.
    – Sie haben recht, jedes Essen ist besser als kein Essen. Das stimmt.
    Wenn sich unter seiner guten Laune keine dunklere Seele verbarg, hatte dieser Mann keine Chance. Leo schätzte, er würde höchstens einen Monat durchhalten.
    Nara Mir hatte sich etwas zurückfallen lassen, um zu zeigen, dass sie unter vier Augen reden wollte. Leo wartete, bis der Direktor vorlief, um eine Tür aufzuschließen. Er nutzte die Gelegenheit, blieb stehen und wandte sich zu Nara um. Ihre Stimme bebte vor Aufregung.
    – Sie dürfen mich so nicht sehen.
    – Wie?
    – In einer Uniform … Meine Eltern.
    Leo betrachtete Naras Uniform.
    – Wissen Ihre Eltern, dass Sie zur Geheimpolizei gehören?
    Sie schüttelte den Kopf und fügte hinzu:
    – Sie haben mir nicht beigebracht, wie man Verdächtige verhört. Ich sollte eigentlich Lehrerin werden. Ich sollte gar nicht hier sein. Das ist sinnlos. Andere wären für diese Aufgabe viel besser geeignet.
    – Sie haben schon eine Verhaftung durchgeführt. Das hier schaffen Sie auch.
    – Ich kann das nicht.
    – Dass die beiden zu Ihrer Familie gehören, sollte keinen Unterschied machen. Der Staat ist Ihre Familie.
    – Ich habe Angst.
    Wäre sie dem desertierten Soldaten gegenüber nicht so mitleidlos gewesen, hätte sie Leo leidtun können.
    – Sie sollen keine Fragen stellen. Sie sollen sie nur aus der Reserve locken. Der Hauptmann hat Sie nicht hergeschickt, weil er Sie für eine erfahrene Vernehmungsoffizierin hält. Die Vernehmung erledigen schon andere. Sie sind nur Staffage.
    – Staffage? Das verstehe ich nicht.
    – Solche Vernehmungen sind Theater, man bringt Leute hinein, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Sie sollen vor Ihren Eltern aufmarschieren. Das ist alles. Niemand erwartet, dass Sie Fragen stellen.
    – Ich kann das nicht machen.
    Der Direktor wartete in der Nähe und versuchte herauszufinden, wo das Problem lag. In Leos Stimme schlich sich ein Hauch Ungeduld.
    – Nara Mir, Sie sind eine Agentin. Sie arbeiten für den Staat. Sie können eine Aufgabe nicht einfach ablehnen, weil sie Ihnen nicht passt. Sie tun, was man Ihnen sagt; was getan werden muss. Wenn ich Ihnen das nicht klargemacht habe, habe ich als Ausbilder versagt.
    Nara vergaß sich, sie wurde plötzlich wütend und fuhr ihn an:
    – Würden Sie Ihre eigenen Eltern verhören?
    Leo legte ihr

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