Agent 6
Panzerung und das kugelsichere Glas schützten Leo und Nara vielleicht heute, aber in ein paar Monaten würden die Feinde sich neue Vernichtungsmethoden einfallen lassen. Als Reaktion würden die Sowjets die Fahrzeuge noch besser schützen, die Türen weiter verstärken und das Fahrgestell verkleiden. Aber es war immer einfacher, etwas zu zerstören, als es zu schützen, und unterm Strich war Leo deshalb davon überzeugt, dass das ganze Gerüst der Besatzung in sich zusammenfallen würde: Es gab zu viel, was man schützen musste, und zu viele Menschen, die es zerstören wollten. Egal wie viele Truppen man entsandte oder wie viel Geld man ausgab, dieses Ungleichgewicht würde weiter bestehen.
Nara, die neben ihm saß, hatte kaum ein Wort gesagt, seit sie den Befehl erhalten hatte, ihre Eltern zu verhören. Kurz nach Tagesanbruch hatte man ihre Mutter und ihren Vater aus ihrem Heimatdorf geholt. Eine Speznas-Einheit hatte das Gebiet gesichert, Naras Eltern aus dem Haus ihrer Verwandten geschleppt und sie in einen Hubschrauber verfrachtet. Als Nara das hörte, hatte sie gefragt, ob sie verletzt seien, sie machte sich Sorgen um ihr Wohlergehen und war überzeugt davon, dass sie unschuldig waren. Die junge Frau fuhr nur aus einem Grund zu dem Gefängnis: Sie wollte für die Freilassung ihrer Eltern sorgen.
Leo bevorzugte Stille beim Autofahren, doch in dieser Stille konnte er die Gedanken seiner Schülerin so laut hören, als hätte Nara sie ausgesprochen – sie versuchte, die Beweise zu widerlegen und das Verhalten ihrer Eltern zu verteidigen.
Sie lieben mich.Sie würden mir nie wehtun.
Sie sind friedliebende Menschen.
Sie sind gute Menschen.
Ich bin ihre Tochter.
Während sie überlegte, wie sie am besten die Unschuld ihrer Eltern beweisen konnte, und sich Erklärungen zurechtlegte, warum sie ausgerechnet am Abend des Überfalls nicht zu Hause waren, konnte sie schließlich nicht widerstehen, ihre Argumente an Leo zu testen.
– Mein Vater hat in Kabul mehr aufgebaut als jeder andere lebende Mensch. Er erschafft Dinge, er ist ein Visionär, kein Terrorist. Vielleicht ist er altmodisch. Das sind die meisten Männer. Vielleicht habe ich ihn irgendwie enttäuscht. Aber das macht ihn noch nicht zu einem Mörder.
Leo wandte den Blick von der Straße ab und betrachtete diese schöne, junge Frau mit ihren großen, blassgrünen Augen. Anders als Raisa war sie naiv und ernsthaft – Raisa wäre niemals derart gutgläubig gewesen. Sie war eine Überlebenskünstlerin gewesen und die scharfsinnigste Frau, die er je gekannt hatte. Er war nicht sicher, ob Nara Mir von ihm Widerspruch erwartete. Ohne zu antworten richtete Leo den Blick wieder auf die unbefestigte Straße. Direkt vor ihnen schälten sich die Umrisse des Pul-i-Charkhi-Gefängnisses aus den Staubwolken.
Die Pläne und Entwürfe für das Gefängnis waren bereits vor der kommunistischen Revolution entstanden, aber dass es gerade zu dieser Zeit fertiggestellt wurde, schien zu sagen, das eine könne nicht ohne das andere existieren: Ein berüchtigtes Gefängnis für politische Häftlinge brauchte eine Revolution ebenso, wie eine Revolution ein solches Gefängnis brauchte. Erstaunlicherweise war dies Leos erster Besuch. Er hatte das Pul-i-Charkhi gemieden und jeden Auftrag abgelehnt, der mit ihm zu tun hatte. Er brauchte es nicht erst zu betreten, um zu wissen, was für ein Ort es war. Es würden unmenschliche Bedingungen herrschen. Erniedrigungen und Demütigungen würden zum System gehören. Während der Regierungszeit des ehemaligen Präsidenten benutzten die Wachleute bevorzugt zerbrochene Limonadenflaschen als Folterinstrumente. Dabei bewiesen sie eine unerklärliche Vorliebe für eine amerikanische Limonadenmarke, die man in Kabul kaufen konnte, ein sprudelndes Zuckerwasser mit Orangengeschmack namens Fanta. Die bekannteren Methoden waren auch vertreten, zum Teil direkt vom sowjetischen Vorbild abgekupfert, darunter Elektroden, blanke Fäuste und Schlagstöcke. Auch Brutalität folgte festgefügten Ritualen.
Vertraut waren dabei nicht nur die Schreckensinstrumente, sondern auch die Sprüche der Protagonisten. Aarif Abdullah, ein ehemaliger Wachmann in Pul-i-Charkhi, hatte Leo gegenüber einmal geprahlt:
Wir sollten nur eine Million Afghanen am Leben lassen – eine Million Kommunisten. Den ganzen anderen Rest brauchen wir nicht. Die schaffen wir uns alle vom Hals.
Diese Gleichgültigkeit menschlichem Leben gegenüber, diese absurde, erschreckende
Weitere Kostenlose Bücher