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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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geschafft, bevor wir dort eintrafen. Wir haben nur noch Blut gefunden. Eines ist sicher: Das können wir nicht durchgehen lassen. Genauso, wie der desertierte Offizier hingerichtet werden muss, um ein deutliches Signal an unsere Soldaten zu senden, müssen wir den Afghanen klarmachen, dass jeder getötet wird, der unsere Operation bedroht.
    Statt zu übersetzen fragte Leo:
    – Fjodor Masurow soll hingerichtet werden?
    Er warf Nara einen Blick zu, um zu sehen, ob sie verstanden hatte. Ihr entsetzter Gesichtsausdruck bestätigte es. So etwas konnte man niemandem beibringen – sie musste selbst erleben, wie es sich anfühlte, für den Tod eines anderen Menschen verantwortlich zu sein. Blind gegenüber solchen Gefühlsnuancen fasste der Hauptmann energisch zusammen:
    – Wie gesagt, wir müssen an ihm ein Exempel statuieren. Das Gleiche gilt für die Angreifer. Außerdem müssen wir schnellstmöglich dafür sorgen, dass der normale Alltag in der Stadt wieder einkehrt. Das Kriegsrecht habe ich aufgehoben. Wir müssen sehen, dass sich die Lage beruhigt. Das Leben geht weiter. Und wir werden die Mörder fangen.
    Dann herrschte Schweigen. Nara fragte unbeholfen auf Russisch:
    – Und die Frau, Ara?
    Der Hauptmann wurde langsam ungeduldig, weil sie sich immer noch für ein Thema interessierten, das er als abgeschlossen betrachtete.
    – Das hat ihr Vater zu entscheiden. Ihre Arbeit hat sie jedenfalls verloren. Er wurde gedemütigt. Ich könnte mir vorstellen, dass sie im Moment kein leichtes Leben hat. Aber das hat sie sich selbst zuzuschreiben.
    Leo umfasste mit einer Hand das Bündel unvollendeter Briefe in seiner Tasche. Er stellte sich vor, seine Töchter würden dieses Gespräch mit anhören, er stellte sich Raisa an seiner Seite vor und wusste genau, wie sie reagieren würden. Sie würden entsetzt um Gnade bitten, sie würden Waschtschenko anflehen, Fjodor und Ara gegenüber nachsichtig zu sein. Sie würden nicht verstehen, dass Leo nichts tun konnte. Das wäre für sie keine Entschuldigung, untätig danebenzustehen. Obwohl Leo sich ihre Wut vorstellte, schaffte er es doch nicht, sich aufzuraffen. Er spürte, dass er tun oder sagen konnte, was er wollte, es wäre unausweichlich. Er war nur ein Berater, ein unwichtiger Mann, der für seine Meinung bezahlt wurde, egal ob man sie beachtete. Er hatte versucht, das Paar zu retten. Widerspruch und Empörung würden ihm zwar Genugtuung bringen, den beiden wäre damit aber nicht geholfen. Er murmelte:
    – Ich habe es versucht.
    Waschtschenko und Nara sahen ihn an. Der Hauptmann fragte:
    – Was haben Sie gesagt?
    Um das Gespräch wieder auf die laufende Untersuchung zu bringen, gab Leo zu bedenken:
    – Wie sollen wir die Morde aufklären, wenn wir keinen Verdächtigen haben? Sie haben selbst gesagt, dass der Angreifer weggeschafft wurde.
    Der Hauptmann antwortete:
    – Wir haben eine Spur.
    – Wen?
    Ohne Rücksicht darauf, dass sie nicht fließend Russisch sprach, wandte sich der Hauptmann direkt an Nara.
    – Ihre Eltern.
    Offenbar hatte sie ihn verstanden. Sie wiederholte gebrochen auf Russisch:
    – Meine … Eltern?
    Der Hauptmann merkte, wie erschüttert Nara war. Er wandte sich an Leo.
    – Ihre Eltern wurden aufgegriffen und verhaftet. Sie soll die beiden befragen. Ich möchte, dass Sie ihr dabei helfen.
    Er beauftragte Leo damit, die Vernehmung durchzuführen. Nara wiederholte auf Russisch, durch die Übung schon etwas flüssiger:
    – Meine Eltern?

Provinz Kabul
Acht Kilometer östlich der Stadt Kabul
Am selben Tag
    Leo fuhr langsam, er war es nicht gewohnt, ein Armeefahrzeug oder überhaupt etwas anderes als ein Fahrrad zu lenken. Man hatte ihnen einen sowjetischen UAS -469 zugeteilt, eine russische Version des amerikanischen Jeeps mit Panzerung und kugelsicheren Scheiben, um für ihre Sicherheit zu sorgen. Hinten befanden sich Leuchtraketen, ein Reservekanister, ein Verbandskasten, Wasser, Proviant, Waffen und Munition. Trotzdem war ihm sein Fahrrad als Verkehrsmittel viel lieber. Die Hinterreifen des Geländewagens wirbelten eine Staubfontäne auf, die wenigstens zwanzig Meter hoch in die Luft stieg und dem ganzen Tal anzeigte, dass ein Wagen unterwegs war. Hauptmann Waschtschenko hatte darauf bestanden, dass sie den UAS -469 nehmen, ohne zu begreifen, dass ein sowjetisches Auto unweigerlich dafür sorgen würde, dass jemand auf sie schoss. Die Technologiegläubigkeit war keine durchdachte Antwort auf die Gefahren durch die Aufständischen. Die

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