Agent 6
vielleicht Leute, die Verdächtiges meldeten. Und der Gesuchte war seit Jahren auf diesem Markt, er würde instinktiv merken, wenn etwas nicht stimmte. Leo beschloss, etwas zu kaufen, um weniger auffällig zu wirken. Ein alter Mann verkaufte nichts als Eier, er blieb erstaunlich gelassen dafür, dass die hoch aufgestapelten Kartons ständig drohten in dem Gedränge umgestoßen zu werden. An einem Obststand kaufte Leo Granatäpfel, er bekam die Früchte, die letzte Ernte der Saison, in einer dünnen Plastiktüte gereicht, die sich unter dem Gewicht dehnte. Er war beinahe den ganzen Markt abgegangen, nur der nördliche Teil des Kreisverkehrs fehlte noch.
Er überquerte die Straße zu den letzten Ständen vor den Teestuben. Dort standen zwei Klapptische mit Stahlschüsseln voller Kürbissamen, Getreide, grüner Linsen und anderer Hülsenfrüchte. Beide Männer schienen sich nicht für ihn zu interessieren. Er ging weiter bis zu einem Karren voller Fleischstücke. Ein abgetrennter Kuhkopf starrte in den Himmel, auf seinen Wangen hockten Fliegen. Unter den Geruch der Innereien mischte sich etwas Süßes, und Leo folgte dem Duft zu einem schmalen Wagen voller Holzkästen. Die Kästen sahen aus wie kleine Schubladen, jede war mit einer anderen zuckrigen Knabberei gefüllt – mit nuql-e-nakhud , Zuckererbsen mit Zucker, nuql-e-badam , Mandeln mit Zucker, und nuql-e-pistah , Pistazien mit Zucker. Ohne den Verkäufer anzusehen, betrachtete Leo die Ware und suchte etwas aus, bevor er Blickkontakt herstellte und gleichzeitig sagte:
– Nuql-e-badam, dreihundert Gramm.
Der Mann war jung, nicht älter als dreißig, und hatte kluge Augen. Im Gegensatz zu den beiden anderen Männern musterte er Leo interessiert. Sein Gesichtsausdruck verriet wenig und verriet damit doch alles. Seine Selbstbeherrschung war antrainiert, sein Hass unterdrückt. Er füllte die Mandeln mit Zuckerkruste in eine Papiertüte. Zum Bezahlen griff Leo nach seinem Portemonnaie und stellte die Tüte mit den Granatäpfeln auf den Rand des Wagens. Der Mann nahm das Geld und blickte Leo hinterher, als er wegging. Leo hatte keine Gelegenheit gehabt, ihn in ein Gespräch zu verwickeln oder ihn nach seinem Namen zu fragen, ohne sein Misstrauen zu erregen. Er hielt es für wahrscheinlich, dass dieser Mann ihr Verdächtiger war. Allerdings beschränkte sich der Hass auf die Besatzer nicht nur auf die Aufständischen.
Am Ende der Straße, etwa fünfhundert Meter von dem Kreisverkehr entfernt, traf Leo auf den ungeduldigen Hauptmann. Nara stand neben ihm. Leo sagte:
– Am nördlichen Ende des Marktes verkauft ein Mann gezuckerte Mandeln.
– Ist er es? Ist das Dost Mohammad?
– Ich konnte ihn nicht fragen, wie er heißt.
– Aber Sie haben ein Gespür für solche Dinge. War er es?
Leo hatte viele Fälle bearbeitet und viele Männer verhaftet.
– Wahrscheinlich ja. Aber ich sollte Sie warnen, Hauptmann, das wird böse enden.
Der Hauptmann nickte.
– Aber nicht für mich.
*
Leo saß auf den Stufen eines Hauses und blickte auf die Papiertüte mit den klebrigen Zuckermandeln hinunter. Eine Fliege landete darauf, sie blieb an den Mandeln haften und strampelte mit den Beinen, während ihre Flügel mit Zucker und Sirup verklebten.
Die Soldaten, die sich versteckt gehalten hatten, kamen mit gezogenen Waffen hervor. Der Hauptmann führte die Gruppe an, er wollte unbedingt die Festnahme vornehmen und für die ganze Stadt ein eindrucksvolles Zeichen setzen. Leo schloss die Augen, dann hörte er quietschende Reifen und Tumult auf dem Marktplatz. Es folgten Schreie, Rufe, eine Mischung aus Russisch und Dari. Schüsse fielen. Leo erhob sich. Neben ihm stand ganz allein Nara Mir, vielleicht der einsamste Mensch, den er je gesehen hatte.
Zusammen gingen sie auf den Kreisverkehr zu, vorbei an den Soldaten, die den Marktbereich absperrten. Über ihnen zog ein Hubschrauber niedrig seine Kreise. Durch den Wind der Rotoren bauschten sich die Zeltplanen über den Marktständen wie Segel. Einige kippten um und verstreuten die Ware auf dem Boden. Leo sah nach den Eiern. Sie waren zerschlagen, überall lagen Schalen und Eigelb.
Leo und Nara gingen zwischen zahlreichen Afghanen hindurch, viele hielten kniend die Hände hinter den Kopf, während ihnen Gewehrläufe in den Rücken gedrückt wurden. Der Mann, der ihm Granatäpfel verkauft hatte, blickte hasserfüllt zu ihm auf. Nach dem Einmarsch der Sowjets konnte Leo nicht länger eine Randgestalt bleiben, unwichtig
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