Agent 6
zurückkehren, egal, wie viel sie hier zerstören. Ich habe nie für die Sowjets gearbeitet. Ich habe für die Menschen in Afghanistan gearbeitet, in Kabul.
Nara trat näher, sie war nur noch drei Schritte von ihrem Vater entfernt. Leo dachte, er würde sie vielleicht schlagen, selbst hier in der Zelle. Er war weder an Armen noch Knöcheln gefesselt. Nara fragte:
– Wusstest du von dem Überfall?
Er antwortete:
– Ob ich davon wusste? Ich habe für sie eine Zeichnung von unserer Wohnung angefertigt und mit einem Kreuz markiert, wo du schläfst.
Leo hatte nichts davon übersetzt. Er warf Borowik einen Blick zu. Trotzdem schien der Vernehmungsbeamte genau zu wissen, was vor sich ging. Er fragte:
– Der Vater hat gestanden, richtig?
Leo nickte. Borowik fuhr fort:
– Das war der leichte Teil. Jetzt brauchen wir die Namen von allen, die daran beteiligt waren.
Leo flüsterte:
– Die wird er uns nie verraten.
Borowik stimmte zu:
– Der Stolz, der uns geholfen hat, arbeitet jetzt gegen uns. Sie haben recht, der Vater wird uns keine Namen nennen. Bei seiner Frau ist das etwas anderes.
Borowik gab dem Wachmann an der Tür ein Zeichen. Dann hörte man, wie eine benachbarte Zelle geöffnet wurde. Ein junger Mann kam herein, mit einer Augenbinde, die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Leo kannte ihn nicht. Naras Mutter stand auf, sie hob zum ersten Mal den Kopf, verschränkte die Hände und flehte:
– Nein!
Ihr Schrei klang verzweifelt, animalisch. Leo fragte Borowik:
– Wer ist das?
– Naras Bruder. Die Mutter scheint an ihrem Sohn zu hängen. Mit dem Tod ihrer Tochter war sie einverstanden. Mal sehen, ob sie das auch mit dem Tod ihres Sohnes ist.
Nara war beinahe ebenso blass geworden wie ihre Mutter. Borowik flüsterte Leo ins Ohr:
– Ich wette, ich bekomme die Namen in fünf Minuten heraus.
Wie ein Sultan, der nach seinem Essen ruft, klatschte Borowik in die Hände.
Ein Wachmann brachte ein Tablett aus Edelstahl herein. Darauf stand eine einzelne Flasche orangefarbener Limonade, ein leuchtender Farbton in der tristen Zelle, auf der Seite ein Fanta-Etikett in verschossenem Blau. Der Wachmann stellte das Tablett auf den Tisch. So geziert wie ein Kellner in einem Luxushotel zog er einen Flaschenöffner aus der Tasche. Der Kronkorken fiel scheppernd zu Boden. Borowik trat näher und trank in großen Schlucken direkt aus der Flasche, ein dünnes, orangefarbenes Rinnsal lief ihm aus dem Mundwinkel, bis er alles getrunken hatte. Dann stellte er die leere Flasche auf die Tischkante und ließ los. Die Flasche fiel, genau wie beabsichtigt, und zerbrach in zwei Teile. Borowik hob das größere Stück auf und hielt es so am Flaschenhals fest, dass es eine gezackte Glasfaust bildete. Eine plumpe Drohung, die den finsteren Ruf dieses Ortes ausnutzte, atemberaubend in ihrer Brutalität. Leo hatte genug gesehen. Wortlos ging er an der entsetzten Nara vorbei und verließ die Zelle. Borowik rief ihm von der Zellentür aus nach, aber Leo blickte sich nicht um. Als er an dem Dolmetscher vorbeiging, den man hinausgeschickt hatte, sagte er:
– Sie werden gebraucht.
Mit Hilfe eines Wachmanns verließ Leo den Gebäudeflügel, er wollte rasch nach draußen und gelangte schließlich auf einen leeren, staubigen Gefängnishof. Er ging zu der entlegensten Ecke, setzte sich und lehnte sich an die Mauer. Dann schloss er die Augen, die Beine in die Sonne gestreckt, den restlichen Körper im Schatten. Nachdem er nachts nicht geschlafen hatte, war er müde und schlief in der angenehmen Hitze bald ein.
*
Als Leo aufwachte, hatten sich die Schatten verändert, und sein Körper lag zur Hälfte im Sonnenlicht. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Erst jetzt merkte er, dass er nicht allein war. Nara saß nicht weit von ihm entfernt auf dem staubigen Boden, den Rücken an die Mauer gelehnt. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie schon dort war. Als er sie mit zusammengekniffenen Augen musterte, sah er, dass sie nicht geweint hatte. Leo fragte mit kratziger Stimme:
– Und?
– Meine Mutter liebt meinen Bruder. Sie hat uns einen Namen genannt.
Etwas war mit Nara geschehen. Sie hatte sich verändert. Sie war abgestumpft.
Provinz Kabul
Kabul
Sar-e-Chowk-Kreisverkehr
Am selben Tag
Leo betrachtete den Kreisverkehr, einen der geschäftigsten Knotenpunkte der Stadt. Am Sar-e-Chowk liefen nicht nur Straßen zusammen, er war ein Marktplatz, für Waren aller Art, aber auch für Informationen und
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