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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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und ignoriert, ohne bemerkt zu werden. Er war kein Geist mehr, sondern genauso das Gesicht der Besatzung wie der übereifrige Hauptmann.
    Der Verdächtige war nicht tot. Die afghanischen und sowjetischen Soldaten hatten ihn in der Nähe des Gewürzstands in eine Ecke getrieben. Er war in den Arm geschossen worden, von seiner Hand tropfte Blut. Nara berührte Leo, sie blieb hinter ihm, wo der Verdächtige sie nicht sehen konnte. Obwohl er die Antwort schon kannte, fragte Leo:
    – Ist das der Mann, der Sie überfallen hat?
    Sie nickte.
    Der Verdächtige hob sein Hemd. An seinem Oberkörper hingen mehrere Plastikbeutel, wie sie Saftverkäufer verwendeten. Die Beutel waren undicht, Flüssigkeit lief über seinen Körper und durchnässte seine Kleidung. Mit einem Funken tauchte eine Flamme in Dost Mohammads Hand auf, ein brennendes Streichholz, das wie aus dem Nichts kam. Er schlug es gegen seine Hose, der Stoff fing Feuer, ebenso sein Hemd, die Plastikbeutel standen in hellen Flammen. Sekundenschnell brannte er lichterloh. Sein Bart fing Feuer. Die Haut zog sich von seinen Knochen. Er konnte nicht stillstehen, als die Schmerzen zu viel wurden, er rannte hin und her und ruderte mit den Armen, während die Flammen in den Himmel sprangen. Ein Soldat legte an, um ihn zu erschießen. Der Hauptmann drückte den Gewehrlauf nach unten:
    – Er soll verbrennen.
    Schließlich sackte der Verdächtige auf die Knie. Die Flammen verlöschten, das Benzin war aufgebraucht. Er bewegte sich noch, weniger wie ein Mensch als wie eine schwelende Leiche, die von dunkler Magie angetrieben wurde. Unter einem der Tische mit Gewürzen blieb er liegen. Der Tisch begann zu kochen, Samenkapseln explodierten in der Hitze. Es stank nach verbranntem Fleisch und Sumak. Leos Blick folgte den Rauchfähnchen, die blau und grün in den Himmel schwebten. So weit er sehen konnte, waren an jedem Fenster Gesichter, Kinder, junge Männer, die Zuschauer, die der Hauptmann für seine Verhaftung haben wollte.
    In den Teestuben blieben die alten Männer mit ihrem Tee in der Hand und der glimmenden Zigarette zwischen den Fingern so ruhig, als wäre ihnen das alles nur allzu vertraut.

Grenze zwischen den Provinzen
Laghman & Nangarhar
Das Dorf Sokh Rot
116 Kilometer östlich von Kabul
Neun Kilometer westlich von Dschalalabad
Am nächsten Tag
    Mit ihren gerade sieben Jahren war es für Zabi zu schwer, einen Teppich zu weben, deshalb hatte sie den Vormittag damit verbracht, zwei der Farben herzustellen, mit denen der Stoff eingefärbt wurde. Ihre Nägel hatten sich von der zerstoßenen Granatapfelschale rot gefärbt. Als sie ihre Fingerspitzen ablutschte, wunderte sie sich, dass die Farbe einen eigenen Geschmack besaß: Rot schmeckte wie saurer Fruchtsaft, noch bitterer und stechender als der scheußliche chai-e-siay , der schwarze Tee, den ihr Vater jeden Morgen trank. Er war so stark, dass er im Teeglas einen Rand hinterließ. Das zweite Gefäß enthielt ein braunes Färbemittel aus geriebenen Walnussschalen, das mehr Arbeit kostete als das rote. Erst musste sie die Schalen knacken, dann zerrieb sie die Teile mit einem schweren, glatten Stein zu Pulver und gab etwas warmes Wasser hinzu. Sie tupfte sich ein wenig davon auf die Zungenspitze. Die braune Schalenpaste hatte eine eigenartige, körnige Konsistenz, schmeckte aber kaum nach etwas. Sie fand, die Farbe Braun wäre eher eine Textur als ein Geschmack, und dachte dann, solche Überlegungen würden nur beweisen, dass sie sich langweilte.
    Ihre Mutter und ihre khaha khanda , eine Gruppe aus guten Freundinnen, saßen in einem engen Kreis zusammen und unterhielten sich, während sie ihre gemusterten Teppiche webten. Einige sollten verkauft werden, andere wollten sie selbst nutzen. Zabi sollte ihnen eigentlich zusehen und lernen, wie man das macht. Eine Weile lang hatte es Spaß gebracht, die Farben herzustellen. Aber jetzt taten ihr vom Zerstoßen der Nussschalen die Arme weh, und ihre Mutter war noch lange nicht fertig. Die Frauen würden den ganzen Tag über an den Teppichen arbeiten, vielleicht auch noch morgen und den Tag danach. Ein Streifen Sonnenlicht fiel auf den Boden. Die Wolken hatten sich aufgelöst. Sie wollte hinausgehen, aber sie wusste, dass man es ihr nicht erlauben würde, wenn sie fragte. Aus Angst, ausgeschimpft zu werden, schob sie sich langsam über den Boden auf die Tür zu, nahm die stählerne Wasserkanne, die sie zum Anrühren der Paste benutzt hatte, und sagte:
    – Ich brauche mehr

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