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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Dienstleistungen. An den Straßenrändern wurden von Marktwagen aus Obst und Gemüse verkauft. Hinter den Ständen hockten Männer in belebten Teestuben auf Plastikstühlen und beobachteten das Treiben um sie herum wie vom Ausguck eines Schiffes aus. Mit ihren Teegläsern in der Hand, zwischen den langen, dünnen Fingern Zigaretten, deren Glut gefährlich nah an den struppigen Bärten glomm, wirkten sie ungemein weise. Man schloss Geschäfte ab, stritt über Ideen, redete über Menschen. Der Platz war eine Drehscheibe, ein Gebrodel aus Tratsch, Gerüchten und Handel, das die Menschen durchwirbelten, als würden sie die Bewegung des Verkehrs übernehmen, und über das die kommunistische Regierung keinerlei Kontrolle besaß, denn es gab keine Telefonleitungen, die sie anzapfen, oder Briefe, die sie abfangen konnte.
    Betont ungezwungen schlenderte Leo zwischen den Marktwagen umher und ließ sich zwischen den Hunderten von Menschen treiben, die am Ende des Tages nach Hause gingen. Einige kauften noch etwas, andere blieben stehen, um sich zu unterhalten, während manche Händler bereits einpackten, weil das Licht langsam schwand. Leo hatte nicht viel Zeit, um sein Ziel zu finden. Hauptmann Waschtschenko beharrte darauf, sie müssten ihren Hauptverdächtigen noch heute in Gewahrsam nehmen. Nara Mirs Mutter hatte ihnen den Namen eines jungen Mannes genannt – Dost Mohammad. Ihrem Geständnis zufolge steckte er als treibende Kraft hinter den Überfällen. Er war mit dem Plan auf Naras Vater zugegangen und hatte ihn gebeten, an einem bestimmten Tag nicht zu Hause zu sein.
    Für den Hauptmann zählte vor allem Schnelligkeit, nicht Umsicht. Leo spürte, dass die Schuldfrage erst in zweiter Linie interessierte. Die Anschuldigung wurde nicht ernsthaft überprüft, man hatte nur minimale Erkundigungen eingeholt. Die afghanische Polizei wusste abgesehen von seinem Beruf kaum etwas über diesen Mann. Es fand sich auch kein Foto in ihren Akten. Ihr bürokratischer Apparat befand sich in einem kläglichen Zustand. Mündliche Informationen und Bespitzelung bildeten das Rückgrat jedes autoritären Regimes – eine Regierung musste ihr Volk kennen. Trotz der vielen ungeklärten Fragen ließ sich der Hauptmann jedoch nicht davon abbringen, innerhalb von vierundzwanzig Stunden den Täter festzunehmen.
    Als Leo sich dagegen ausgesprochen hatte, den Markt zu stürmen, ohne auch nur zu wissen, wie der Verdächtige aussah, hatte der Hauptmann ihn gerügt und daran erinnert, dass sie in Afghanistan anders vorgehen müssten als der KGB zu Leos Zeiten, dass sie Festnahmen nicht morgens um vier Uhr durchführen könnten, wenn alle schliefen. Das würde der Feind als weibische Hinterhältigkeit und Täuschung ansehen. Wenn sie Afghanistan unterwerfen wollten, mussten sie Tapferkeit, Mut und Kühnheit beweisen. List und Verschlagenheit galten hier als Sünden, nicht als Tugenden. An einem der geschäftigsten Plätze der Stadt öffentlich für Recht und Ordnung zu sorgen, wäre eine starke, angemessene Antwort auf die brutalen Morde der letzten Nacht. Die Gefahr, dass sich in der Menge Widerstandskämpfer befanden, sah der Hauptmann nicht als Problem. Er hoffte sogar, dass sich ihre Feinde zeigten. Sollten sie ruhig zu den Waffen greifen. Dabei würden sie sterben.
    Da sie kein Foto hatten, wussten sie nur, dass der Verdächtige einen Wagen besaß, mit dem er normalerweise an diesem Kreisverkehr eine Auswahl typisch afghanischer Süßigkeiten verkaufte – Trockenobst und Nüsse in Zucker und Honig. Ein derart miserables Verdächtigenprofil war Leo bisher selten begegnet. Manche behaupteten, Dost Mohammad sei fünfundzwanzig Jahre alt, andere sagten, er sei dreißig. Weil viele Menschen nicht zählen konnten, wählten sie oft ein Alter, um das Aussehen zu beschreiben. Leo würde den Mann in ein Gespräch verwickeln und herausfinden müssen, ob er Dost Mohammad war. Dann sollte er zu dem Team zurückkehren, das in der Nähe wartete, damit es den Markt stürmen und den Mann festnehmen konnte. Sie gingen davon aus, dass ein Mann mit grünen Flipflops und den verräterischen Anzeichen für Opiummissbrauch in Augen und Gesicht niemandem verdächtig vorkommen würde. Leo war sich da nicht so sicher.
    Während Leo nach dem Stand suchte, schätzte er ab, welche Probleme der Zugriffsort mit sich brachte. Sie konnten dieses Gebiet unmöglich absichern, nicht einmal mit einer großen Verstärkung, denn es gab unzählige Fluchtwege. Außerdem gab es

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