Agent 6
Wasser.
Ohne auf eine Antwort zu warten, lief sie hinaus, übermütig und voller Energie, ihre nackten Füße huschten über den glatten Lehmpfad, vorbei an den Häusern, bis sie das Dorf verlassen hatte.
Ihr Dorf lag inmitten von Obstgärten, die sich in alle Richtungen erstreckten. Das ganze Tal war grün und fruchtbar, die Bäume waren so gepflanzt, dass es immer etwas zu ernten gab – Mandeln, Walnüsse, Aprikosen, Äpfel und Pflaumen. Jeder Obstgarten besaß ein eigenes Bewässerungssystem. Durch einen tiefen, mit Beton ausgegossenen Kanal strömte Wasser aus den Bergen herunter, bis es sich in ein Netzwerk kleinerer Rinnen ergoss, die sich über die Gärten verteilten. Ihr Vater sagte, weil das Dorf Sokh Rot so erfinderisch war, gehörte es zu den reichsten der Gegend. Es war berühmt für seine Früchte und für die langen Reihen von Maulbeerbäumen, die Besucher auf der Hauptstraße Richtung Dorfmitte willkommen hießen.
Trotz der schönen Umgebung war Zabi das einzige Mädchen, das gern draußen spielte. Laila und Sahar kamen manchmal raus, aber sie waren erst drei Jahre alt und trauten sich nicht weiter als bis zu den Ziegen, die sie fütterten. Die anderen Mädchen, die schon älter waren, verließen so gut wie nie das Haus. Und wenn, dann mussten sie immer anständig angezogen sein und die ihnen aufgetragenen Aufgaben erledigen; zum Spielen kamen sie nie heraus. Zabi konnte sich auch zu ihnen setzen, zu ihrer Mutter und den anderen, und ihren Geschichten zuhören. Manchmal gefiel es ihr sogar im Haus, wenn es kalt war oder regnete, und es machte ihr Spaß zu backen, zu kochen, zu nähen und für die Teppiche Farben herzustellen, aber nicht immer, nicht jeden Tag.
Sie blieb stehen, als sie so weit vom Dorf entfernt war, dass man sie nicht zurückrufen würde. Die Wasserkanne, die sie immer noch bei sich trug, stellte sie unter den größten Aprikosenbaum mitten im dritten Feld von ihrem Dorf aus. Sie trug keine Schuhe, aber das machte nichts. Ihr war nicht kalt. Als sie zwischen den Bäumen entlangging, fiel ihr ein, was ihre Mutter vor Kurzem gesagt hatte:
Du bist jetzt bald eine Frau.
Eine Frau zu sein klang wie ein Kompliment. Trotzdem beunruhigte die Bemerkung sie. Die Frauen im Dorf spielten nie draußen, sie liefen nie durch die Obstgärten und kletterten auch nicht auf Bäume. Wenn sie das alles als Frau nicht mehr tun durfte, wollte sie lieber ein Mädchen bleiben.
Als sie fast das Ende der Obstgärten erreicht hatte, blieb sie vor dem Bewässerungskanal stehen, durch den das Wasser aus den Bergen floss. Der Kanal war breit und tief, das Wasser strömte schnell hindurch. Sie hob ein Blatt auf, ließ es auf die Oberfläche fallen und beobachtete, wie es rasch davontrieb. Die Ausrede, sie wollte Wasser holen, würde sie nicht vor einer Standpauke retten. Sie würde eine Abreibung bekommen. Aber das war ihr egal. Die größte Angst hatte sie vor der Strafe, sie dürfte nie wieder nach draußen gehen. Sie hob den Blick, betrachtete traurig die Berge und wünschte sich, sie könnte eines Tages bis auf die Gipfel klettern und hinunter ins Tal blicken.
Zabi erschrak, als sie eine Stimme hörte.
– Du da!
Sie machte sich darauf gefasst, gleich fürchterlich ausgeschimpft zu werden, und drehte sich ängstlich um. Ein älterer Junge kam zwischen den Aprikosenbäumen auf sie zu. Im hellen Sonnenlicht konnte Zabi sein Gesicht nicht erkennen. Er fragte:
– Warum bist du so traurig?
Zabi hob eine Hand, schirmte die Augen ab und betrachtete das Gesicht des Jungen. Es war Sayed Mohammad. Sayed war ein Teenager, vierzehn Jahre alt und ganz anders als seine großen Brüder, die nur selten ins Dorf kamen. Verlegen murmelte Zabi:
– Ich bin nicht traurig.
– Stimmt nicht. Ich sehe es dir doch an.
Zabi antwortete nicht, der junge Mann schüchterte sie ein. Er war in ihrem Dorf für seinen Gesang und seine Gedichte bekannt. Obwohl er jung war, saß er oft mit den erwachsenen Männern zusammen, unterhielt sich mit ihnen und trank ihren bitteren Tee, als würde er zu ihnen gehören. Um das Thema zu wechseln, fragte sie:
– Was hast du gerade gemacht?
– Ich habe ein Gedicht verfasst.
– Das kannst du beim Laufen machen?
Sayed lächelte.
– Ich dichte in meinem Kopf.
– Dann hast du bestimmt ein gutes Gedächtnis.
Er schien darüber ernsthaft nachzudenken. Über die meisten Dinge dachte er ernsthaft nach.
– Ich habe eine Methode, um mir Gedichte zu merken. Ich singe sie anderen
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