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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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es.
    Sayed fing an zu singen.
    – O Karmal!
    Er unterbrach sich.
    – Weißt du, wer Karmal ist?
    Zabi schüttelte den Kopf. Sie kannte niemanden, der Karmal hieß.
    – Karmal ist der Präsident. Weißt du, was ein Präsident ist?
    – Ein Stammesältester?
    – Ja, so was Ähnliches. Er ist ein Herrscher, ein Anführer, aber er wurde nicht von uns gewählt, von den Menschen, die in diesem Land leben. Die Besatzer haben ihn an die Spitze gestellt, damit er tut, was sie wollen. Stell dir vor, irgendein Dorf ein paar Tausend Kilometer weit weg würde unseren Dorfältesten aussuchen. Wäre das etwa vernünftig? Und dann stell dir vor, dieser Älteste wäre nicht einmal in unserem Dorf geboren, er käme von außerhalb hierher, auf unser Land, und würde uns sagen, was wir tun dürfen und was nicht.
    Zabi verstand ihn. Das klang wirklich nicht vernünftig.
    Sayed sang weiter.
    – O Karmal! Sohn Lenins …
    Wieder unterbrach er sich.
    – Weißt du, wer Lenin ist?
    Zabi schüttelte den Kopf. Dieser Name klang merkwürdig.
    – Lenin ist der Mann, der den Kommunismus erfunden hat. So heißt die Religion, an die unsere Besatzer glauben. Für die Besatzer ist Lenin ein Gott oder ein Prophet, eine göttliche Gestalt – in ihren Schulen und Häusern hängen sie Bilder von ihm auf. Sie lesen seine Worte und singen sie.
    Wieder nahm Sayed sein Lied auf.
    O Karmal! Sohn Lenins,Du sorgst dich nicht um Religion und Glauben,Dein Untergang steht dir bevor, undUnheil soll dich treffen, o Sohn eines Verräters,O Sohn Lenins!
    Trotz der Erklärung verstand Zabi den Text nicht richtig. Aber Sayeds Stimme fand sie wunderbar, und als er fertig war, klatschte sie.
    Als Sayed sich gerade lächelnd verbeugen wollte, fuhr er wie ein aufgeschrecktes Tier herum und starrte in den Himmel. Zabi hörte nur das Rauschen des Wassers im Bewässerungskanal. Sayed blickte reglos in den leeren, blauen Himmel hinauf. Dann bemerkte auch Zabi das Geräusch; so etwas hatte sie noch nie gehört.
    Sayed umfasste ihre Taille und hob sie in den nächsten Aprikosenbaum. Zwischen den Zweigen kletterte Zabi in dem kleinen Baum weiter nach oben.
    – Was soll ich machen?
    – Guck nach oben! Sag mir, was du siehst!
    Sie war leicht, aber der Baum war noch jung, und die Äste bogen sich unter ihrem Gewicht. Das Geräusch wurde lauter. Sie spürte ein Zittern, das durch den Stamm ging. Als sie nicht weiter klettern konnte, streckte sie den Kopf über den Baumwipfel.
    – Was siehst du?
    Tief über den Bäumen flogen zwei Kriegsmaschinen direkt auf sie zu – riesige Stahlinsekten mit Stummelflügeln und rotierenden Klingen, die durch die Luft schnitten und den blauen Himmel über ihnen verschwimmen ließen. Vorne hatten sie Fenster, gläserne Kuppeln, die wie furchterregende, riesige Monsteraugen aussahen. Die Maschinen flogen so niedrig, dass sie einen der Männer darin sehen konnte, das Gesicht des Piloten blieb unter einem Helm verborgen. Als sie über Zabi hinwegflogen, hatte sie das Gefühl, sie könnte die Hand ausstrecken und ihren stählernen Bauch berühren. Sayed rief ihr etwas zu, aber sie verstand ihn nicht, sie hörte nur das Wupp-wupp der Rotoren. Ein Windstoß, ein Sturm von Menschenhand, fuhr durch die Bäume. Sie musste sich mit aller Kraft festhalten. Der ganze Baum wackelte. Ohne auf Sayed zu hören, der ihr zurief, sie solle herunterkommen, sah Zabi die beiden riesigen Stahlinsekten über ihr Dorf fliegen.
    Die erste Explosion besaß eine solche Wucht, dass Zabi aus dem Baum geschleudert wurde. Der Druck traf sie an der Brust und warf sie nach hinten. Sie fiel, unter ihr brachen die Zweige. Sie wäre auf den Boden geschlagen, hätte Sayed sie nicht aufgefangen. Es brannte, das Feuer strahlte große Hitze aus. Über ihnen erhob sich ein Rauchpilz, er stieg in den Himmel wie ein zorniger Geist. Die Obstgärten nahe beim Dorf standen in Flammen, die Baumwipfel brannten. Dann folgte eine zweite Explosion, ein Windstoß, unter dessen Hitze sich ihre Wimpern kräuselten. Sayed rannte, er trug sie unter dem Arm wie einen aufgerollten Teppich. Neben ihnen prasselten Erdklumpen zu Boden.
    Sie blickte zurück und sah schwarzen Rauch, der durch die Bäume wallte, er rollte auf sie zu wie der Rand einer bösartigen Wolke. Plötzlich riss die Wolke auf – eine Herde Bergponys brach aus dem Rauch hervor. Sie hatten die Augen weit aufgerissen, aus ihren Mähnen schlugen Flammen, das Fell war schwarz und verbrannt. Einige waren blind, vielleicht

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