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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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auch blind aus Panik, sie rannten mit dem Kopf gegen die schmalen Stämme der Aprikosenbäume, dass die Bäume splitterten und die Ponys zu Boden sackten. Ihre Hufe rissen die Erde auf. Ein Pony galoppierte weiter, obwohl sein Bauch aufgerissen war, es preschte an ihnen vorbei, während ein anderes neben ihnen zusammenbrach, seine Beine hatten nachgegeben, die Zunge hing ihm aus dem Maul.
    Das mechanische Wummern kehrte zurück. Eine der fliegenden Maschinen drängte sich durch die schwarze Wolke, dann schwebte sie direkt über ihnen. Sayed lief schneller, in seinem Blick lag die gleiche wilde Panik wie in den Augen der Ponys, die an ihnen vorbeirasten. Sie konnten sich nirgends verstecken.
    Zabi sah vor sich den Bewässerungskanal. Bevor sie ihn erreichten, gab es eine dritte Explosion – der Boden schien in sich zusammenzustürzen, er gab nach, jeder Klumpen Erde, jedes Blatt bebte. Sayed schleuderte sie nach vorn. Einen Moment lang flog sie durch die Luft, dann stürzte sie und landete im Kanal, brach durch die Wasseroberfläche und tauchte in die eisige Strömung. Sie drehte sich um und blickte durch das Wasser nach oben. Sayed war nirgends zu sehen. Ein brennendes Pony sprang über sie, seine Hufe schrappten über die Betonwände. Der blaue Himmel verschwand, an seine Stelle trat Feuer. Das eiskalte Wasser begann brodelnd zu kochen.

Provinz Kabul
Kabul
Jada-e-Maiwand-Viertel
Microrayon Apartmentgebäude
Drei Tage später
    Die Wohnung lag in einem Neubau der Regierung. Im Haus roch es nach frischer Farbe und Kleister. Leo wollte ein Fenster öffnen, aber es war verriegelt, vielleicht zu seiner eigenen Sicherheit, denn die Scheibe bestand aus bruchfestem Glas. Es war aus der Sowjetunion importiert, was bei jeder Scheibe mehr kostete, als ein afghanischer Glasbläser in einem Jahr verdiente. Er lehnte sich gegen das Fenster und beobachtete, wie sich das Licht der untergehenden Sonne im dichten Smog über der Stadt brach. Es verwandelte jede Schicht aus Staub und Schmutz in Farbmuster aus Rot und Orange. Er stand in der fünften Etage, dem obersten Stockwerk eines Wohnhauses, das am Rand von Moskau nicht weiter aufgefallen wäre. Aber in Kabul sprang einem der anonyme Betonklotz sofort ins Auge, er war ein Fremdkörper in sowjetischer Bauweise, der nicht zu den traditionellen, stuckverzierten Häusern passte. Diese Apartmenthäuser waren nach dem Einmarsch der Sowjets im Jada-e-Maiwand-Viertel wie Pilze aus dem Boden geschossen. Leos Haus war erst vor einer Woche fertiggestellt worden. Es war von einem Stacheldrahtzaun mit Suchscheinwerfern umgeben, an dem sowjetischen Soldaten patrouillierten, keine afghanischen, was zeigte, welches Misstrauen zwischen den beiden Gruppen herrschte. Weil nach dem grausamen Tod von Dost Mohammad weitere Vergeltungsschläge befürchtet wurden, hatte man alle sowjetischen Mitarbeiter, auch die Berater, an sicheren Orten untergebracht. Leos Einwände waren abgeschmettert worden. Es gab keine Ausnahmen. Innerhalb von Stunden war ein Besatzerghetto entstanden, genau die Art von Trennung und Misstrauen, die sich Dost Mohammad als Vermächtnis gewünscht hätte.
    Bei seinem Einzug hatte Leo sofort die vier Türen zwischen den Zimmern ausgehängt und sie auf dem Boden gestapelt. Dadurch konnte er von einer bestimmten Stelle im Wohnzimmer aus das ganze Apartment sehen und sichergehen, dass seine Fantasie ihn nicht mit den Erinnerungen an seine Familie quälte. Trotzdem glich der Schnitt der Wohnung viel zu sehr dem Heim, das er mit Raisa und den Mädchen geteilt hatte, sie war die Kopie einer typischen sowjetischen Wohnung, inklusive Bücherregalen und Kleiderschränken aus Sperrholz. Leo hatte nichts auszupacken. Alles, was er besaß, lag auf dem Wohnzimmertisch: der Stapel unvollendeter Briefe an seine Töchter und seine Opiumpfeife. Die Briefe von Elena und Soja hob er nur deshalb nicht auf, weil er nicht aufhören konnte, sie zu lesen – er ging sie immer wieder durch, bis die Wörter und Sätze zerfielen und keinen Sinn mehr ergaben. Mit jedem Lesen wurde er unsicherer, was sie wirklich bedeuteten, worauf er sie noch einmal lesen musste, er drehte sich zwanghaft im Kreis. Dann verglich er die Briefe miteinander und fragte sich, warum Soja dieses Mal nur achthundert Wörter geschrieben hatte, obwohl sie normalerweise mehr als eintausend schrieb, oder ob Elenas Ton kälter geworden war, ob ihr Abschiedsgruß – Alles Liebe  – ernst gemeint war oder nur eine widerwillige

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