Agent 6
verstand genug, um mit dem Namen auszuhelfen.
– Tapa-e-Tajbeg.
Der Hauptmann nickte.
– Der Plan war, den Präsident gefangen zu nehmen. Wir haben gedacht, seine Leibwache würde sich ergeben. Aber sie hat im Gegensatz zu den anderen afghanischen Divisionen Widerstand geleistet. Wir mussten uns den Weg freikämpfen. Am Ende lag teures Kristall in Scherben auf dem Boden, Kronleuchter sind von den Decken gefallen, und Gemälde und Kunstwerke waren zerschossen.
Der Hauptmann lachte.
– Es war, als würde man in einem Museum kämpfen. Wir sind hinter Antiquitäten in Deckung gegangen, die mehr kosten, als ich in meinem Leben verdienen werde. Dafür, dass sie gar nicht gewinnen konnte, hat die Leibwache mutig gekämpft. Wahrscheinlich wussten sie, dass sie auf jeden Fall sterben. Wir haben in dem Palast einen Raum nach dem anderen eingenommen. Und ich wollte derjenige sein, der den Präsidenten gefangen nimmt oder tötet. Das wäre doch eine Beute gewesen! Ich habe gedacht, er würde sich in seinem Schlafzimmer verstecken. Läuft nicht jeder ins Schlafzimmer, wenn es gefährlich wird? Die meisten fühlen sich da sicher, oder sie finden, es wäre das richtige Zimmer zum Sterben. Aber ich habe falsch geraten. Einer meiner Kameraden hat den Präsidenten in der Bar gefunden. Er hatte eine eigene Bar. Er hat mit dem Rücken zur Tür auf einem Stuhl gesessen und einen fünfzig Jahre alten Scotch getrunken. Sie haben ihn von hinten erschossen, dabei aber aufgepasst, dass die Karaffe nicht zu Bruch geht. Den Scotch haben wir auf unseren Sieg getrunken. Dabei war mir gar nicht nach Feiern zumute. Es ärgert mich immer noch, dass ich das falsche Zimmer gestürmt habe.
Voller Bedauern schüttelte der Hauptmann den Kopf.
– Ich habe noch nie einen Diktator erschossen.
Leo bemerkte:
– Sie haben einen neuen eingesetzt. Vielleicht bekommen Sie noch eine Chance.
Zu seiner Überraschung fand der Hauptmann das amüsant.
– Wenn es so weit ist, gehe ich direkt in die Bar.
Der sonst ernste Mann drehte sich um und gestattete sich ein schwaches Grinsen.
– Übersetzen Sie das doch auch für sie.
Mit der gleichen Bemerkung hatte der Hauptmann Leo und Nara am vergangenen Abend allein gelassen. Er wusste, dass sie sich geküsst hatten. Leo hatte recht behalten. Die Zimmer waren wirklich verwanzt.
Grenze zwischen den Provinzen
Laghman & Nangarhar
Das Dorf Sokh Rot
116 Kilometer östlich von Kabul
Neun Kilometer westlich von Dschalalabad
Am selben Tag
Als sie sich dem Ort des Massakers näherten, veränderte sich die Landschaft. Die Bäume waren nicht mehr mit Blüten übersät, sie waren verbrannt – die Äste waren schwarz verkohlt, ganze Baumstämme verbrannt und zu dunklen Silhouetten reduziert, wie in der Bleistiftzeichnung eines Kindes. Im Zentrum des Angriffs war sogar die Straße nicht mehr zu erkennen, sie bestand nur noch aus schwarzen Kratern umgeben von schartigen Baumstümpfen, die Trollzähnen glichen.
Der Hauptmann befahl anzuhalten. Schon beim Aussteigen bemerkte Leo den stechenden Geruch nach Chemikalien, der vom Boden aufstieg. Wenn der Wind etwas stärker wehte, wirbelte er feinen Staub zu schwarzen Trichtern auf, die sich in der Luft drehten. Unter ihren Füßen knirschte Asche. Leos und Naras Blicke trafen sich. Den Krieg außerhalb von Kabul hatte sie noch nie gesehen. Sie war entsetzt. Leo fragte sich, wie lange sie wohl brauchen würde, um eine Rechtfertigung für diese Zerstörung zu finden, um sie zu erklären und sich Argumente zurechtzulegen, warum sie nötig war. Mit Sicherheit hatte sie schon damit begonnen.
Die Lehmwände der Häuser waren nicht nur zerstört, sie existierten nicht mehr. Am Rand des Dorfes gab es noch ein paar Überreste, getrocknete Lehmhaufen, aufgerissen von der Hitze. Leo fragte:
– Wie ist das passiert?
Der Hauptmann trug eine Sonnenbrille, in deren Gläsern Leo nur sein eigenes, verzerrtes Spiegelbild sah.
– Diese Dörfer wirken so ruhig und malerisch, typische Provinznester mit Häusern aus Kuhscheiße, Kindern, die Ziegen jagen, mit Töpfen und Pfannen und Reissäcken. Aber in diesem Dorf haben sich Terroristen versteckt. Die Brüder aus diesem Dorf hatten genug TNT , um einen ganzen Staudamm zu sprengen. Wissen Sie, wie viele Menschen dabei gestorben wären, nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten? Wie das hier passiert ist? Die Menschen, die hier gelebt haben. Sie haben es sich selbst zuzuschreiben. Unsere Hubschrauber sind unter schweren
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