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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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einem Bodentrupp Luftunterstützung gewähren. Uns wurde gesagt, die Dorfbewohner hätten das Feuer eröffnet. Die Hubschrauber haben zurückgeschlagen. Der Konflikt ist eskaliert.
    Er unterbrach sich und sah Leo an.
    – Es gab mehrere Hundert Tote, darunter Frauen und Kinder. Jetzt haben wir ein ganz anderes Problem. In der Region breiten sich Geschichten über den Angriff aus. Wir befürchten, dass sie den Widerstand anfachen, nicht nur in der Gegend, in der es zu dem Vorfall gekommen ist, sondern auch in Kabul. Die Neuigkeiten haben die Hauptstadt erreicht. Die Menschen werfen uns vor, wir hätten das Dorf aus Rache angegriffen. Viele unserer afghanischen Alliierten sind aufgebracht. Sie finden unsere Reaktion unangemessen.
    Leo erriet schon, worauf der Hauptmann hinauswollte.
    – Sie haben doch eine militärische Dienstaufsicht. Soll die ermitteln. In aller Öffentlichkeit.
    – Hier geht es nicht darum, gegen Militärangehörige zu ermitteln. Die haben nur ihren Auftrag ausgeführt. Es geht um die öffentliche Wahrnehmung. Wir müssen in diese Gegend fahren und so etwas wie eine Versöhnungsgeste machen. Sie sind unser erfahrenster Berater, Sie verstehen diese Leute. Die Terroristen machen tot noch mehr Probleme als lebendig. Ich will, dass Sie eine Art Frieden und Wiedergutmachung aushandeln.
    Leo fand die Idee absurd. Er kratzte sich über seine Bartstoppeln und sagte:
    – Hauptmann, ich will offen mit Ihnen sein. In dieses Dorf zu fahren ist Zeitverschwendung. Diese Leute wollen nichts von uns, sie wollen nur, dass wir ihr Land verlassen. Aber das kann ich ihnen nicht anbieten, oder?
    Der Hauptmann steckte seine Pistole ein, ließ die Karte aber liegen. Auf Leos Einwand ging er nicht ein:
    – Es geht gleich morgen früh los. Ich brauche Leute, die verhandeln können, Leute, denen ich vertraue, deshalb soll Nara Mir mitkommen. Sie hat sich als vielversprechende Agentin bewiesen. Es wäre gut, wenn wir wenigstens eine Afghanin dabeihätten, um den Schein zu wahren.
    Er brach ebenso plötzlich auf, wie er gekommen war. An der Tür blieb er stehen und blickte zu ihnen zurück.
    – Übersetzen Sie für sie alles, was ich gesagt habe.
    Dann schloss der Hauptmann die Tür und ließ die beiden allein.

Auf der Straße von Kabul
nach Dschalalabad
100 Kilometer östlich von Kabul
25 Kilometer westlich von Dschalalabad
Am nächsten Tag
    Leo saß auf dem Rücksitz des gepanzerten UAS neben Nara, beide blickten in entgegengesetzte Richtungen und hatten sich voneinander abgewandt. So hatten sie den Großteil der langen, unbequemen Reise verbracht: Stumm und ohne Blickkontakt hatten sie aus dem Fenster gestarrt, während ihr Konvoi Kabul verlassen und eine der gefährlichsten Routen der Welt eingeschlagen hatte, die Straße nach Dschalalabad. Sie führte durch die Berge und schlängelte sich in der Sarobi-Schlucht um Abgründe, die mehrere Hundert Meter senkrecht in die Tiefe fielen. Dort unten waren ausgebrannte Gerippe von verunglückten Autos zu sehen. In dieser Gegend kam es immer wieder zu Anschlägen, sie war ebenso tödlich wie der Ausgang des Salangpasses, in dessen Nähe sich die Aufständischen in den Bergen versteckten, um Treibstoffkonvois unter Beschuss zu nehmen. Der Wagen wurde von einem Offizier gefahren, der Hauptmann saß auf dem Beifahrersitz. Mit ihrem Begleitfahrzeug, in dem vier sowjetische Soldaten zur Unterstützung mitfuhren, bildeten sie einen bescheidenen Konvoi. Ihre Funkgeräte blieben sprechbereit, damit sie im Notfall jederzeit Luftunterstützung anfordern konnten. Hin und wieder drehte sich der Hauptmann um und sagte etwas zu Leo, ohne dass man seinen ausdruckslosen, kantigen Zügen ansehen konnte, ob er ahnte, was letzten Abend geschehen war. Es hätte absolut zum Vorgehen der Sowjets gepasst, die neu gebauten Wohnhäuser mit Wanzen zu versehen.
    Der letzte Abend war ein Fehler gewesen, ein unbesonnener, stürmischer und vor allem unreifer Fehler. Sie hätten sich nicht küssen dürfen. Nara würde ihm sicher recht geben. Sie waren einsam gewesen, zwei verlorene Seelen in ihren trostlosen, leeren, neuen Wohnungen. Er wusste nicht mehr, wie es zu dem Kuss gekommen war – sie hatten sich unterhalten und dabei nah nebeneinander gestanden, um sich die Karte auf dem Tisch anzusehen. Sie hatte auf das Dorf gezeigt, aus dem ihre Familie stammte und in dem sie selbst nie willkommen war. Sie hatte Leo den Weg gezeigt, auf dem ihr Großvater früher Felle nach China geschmuggelt hatte,

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