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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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und erzählt, dass viele Schmuggler auf den Gebirgspässen gestorben waren. Erst in diesem Moment war ihr klar geworden, dass ihr Großvater von dem Plan gewusst haben musste, sie umzubringen, und dass er wahrscheinlich damit einverstanden gewesen war. Sie hatte bestürzt reagiert und ihm erklärt, warum. Vielleicht hatte Leo sie nur trösten wollen, oder er hatte ihre Hand aus Zufall gestreift. Er war sich nicht sicher. Bis dahin war alles verschwommen, aber an den Kuss konnte er sich deutlich erinnern, an seine Begierde, die das Opium oder die Trauer, vielleicht auch beides, so lange unterdrückt hatten. Für einen Augenblick hatte er eine einfache, simple Freude verspürt, einen unwiderstehlichen Drang, der ihm einredete, es wäre das einzig Richtige, diesem Impuls nachzugeben. Aber als er ihre Taille umfasst hatte, hatte er gespürt, wie sie zitterte, nervös und unerfahren und überwältigt von ihren Gefühlen. Er war zurückgewichen. Sie hatte den Mund leicht geöffnet, als wollte sie etwas sagen, brächte aber die Worte nicht zusammen. Reglos hatten sie sich gegenübergestanden, scheinbar minutenlang. Vielleicht waren auch nur Sekunden verstrichen, bevor sie gegangen war und die Tür sanft hinter sich zugezogen hatte.
    Nachdem Nara seine Wohnung verlassen hatte, hatte Leo seine Lunge mit Opium gefüllt, seinem Ersatz für menschlichen Kontakt. Jetzt lehnte er erschöpft den Kopf gegen das kugelsichere Fenster und schloss die Augen.
    *
    Als Leo aufwachte, hatte der Wagen angehalten. Nara saß nicht neben ihm, auch der Fahrersitz war leer. Er öffnete die gepanzerte Tür und stieg aus. Zu einer Seite erstreckte sich die grünblaue Oberfläche eines Sees. Auf der anderen Straßenseite ragte ein Berg steil in die Höhe. Sie befanden sich am Darwanta-Staudamm, nicht weit entfernt von ihrem Ziel, dem Dorf Sokh Rot im Tal hinter diesem Berg. Der Hauptmann stand mit seinen Offizieren zusammen, von denen mehrere rauchten. Nara stand allein am See und blickte auf das Wasser. Leo ging zu ihr. Er war unsicher, nicht nur, weil der Hauptmann sie beobachtete, und wusste im ersten Moment nicht, was er sagen sollte. Als er die Wasseroberfläche berührte, kräuselte sich ihr Spiegelbild.
    – Es muss nicht zu einem Problem werden.
    Sie sagte nichts. Leo fuhr fort:
    – Ich … übernehme die Verantwortung. Dich trifft keine Schuld.
    Eigentlich wollte er nichts mehr sagen, aber er konnte nicht anders, er musste jede Bemerkung erklären.
    – Es war ein Fehler, wir können die Sache einfach vergessen. So sehe ich das.
    Sie schwieg. Leo sagte:
    – Am besten machen wir weiter wie vorher. Als wäre nichts passiert. Wir sollten uns auf unsere Aufgabe konzentrieren. Wir sind schon bald da.
    Er fuhr fort:
    – Das, was gestern Abend passiert ist, hat nichts zu bedeuten. Was aber nicht heißen soll, dass wir nicht Freunde sein können. Ich wäre gerne dein Freund. Wenn du es willst …
    Leo wünschte, der Hauptmann hätte Hubschrauber angefordert, mit denen sie nicht Stunden, sondern nur Minuten für die Strecke gebraucht hätten. Doch vor dem Hintergrund eines angeblichen Massakers durch zwei Krokodil-Hubschrauber hätte es wenig Instinkt bewiesen, das Gebiet anzufliegen; es hätte den Skandal nur noch vergrößert oder Panik ausgelöst. Leo wunderte sich, dass sich der Hauptmann selbst um das Problem kümmern wollte. Die Geheimdienstberichte, nach denen das Massaker den Widerstand in Kabul anfachte, erschienen fragwürdig. Ebenso fragwürdig war die Vorstellung, man könnte die Vergebung der Menschen mit einem Entwicklungsprojekt erkaufen, mit einem Krankenhaus, einer Schule, einem Trinkwasserbrunnen oder ein paar fetten Viehherden. Warum der Hauptmann seine Zeit für eine solche beschwichtigende Geste aufwenden sollte, war Leo schleierhaft. Er hatte nur seine Pfeife und einen kleinen Vorrat Opium mitgenommen, weil er vermutete, sie müssten im nahe gelegenen Dschalalabad bleiben, bis die Sache geregelt wäre.
    Als sie sich ihrem Ziel näherten, wurde Hauptmann Waschtschenko ungewöhnlich gesprächig. Er fragte:
    – Soll ich Ihnen von meiner größten Enttäuschung erzählen, seit ich in diesem Land bin?
    Die Frage war rein rhetorisch, und er sprach weiter, ohne auf eine Antwort zu warten, die er ohnehin nicht hören wollte.
    – Während der Invasion habe ich an dem Sturm auf den Präsidentenpalast teilgenommen, in dem jetzt die 40. Armee stationiert wird. Wo der Deserteur gewohnt hat – Sie waren doch dort.
    Nara

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