Agent 6
Sie selbst verschwanden in den Bergen. Sie zielten nicht darauf ab, Städte zurückzuerobern, weil ein solcher Sieg den sowjetischen Truppen ein Ziel präsentiert hätte. Statt auf herkömmliche Art Krieg zu führen, versetzten sie den Besatzern gezielt Stiche, einige tief, viele oberflächlich. Sie wollten die Sowjets bluten lassen, während die Sowjets ihrerseits Staub und Felsen bombardierten oder in diesem Fall Aprikosenbäume.
Leo wischte sich den Schweiß von der Stirn und betrachtete das Dorf, das nicht mehr weit entfernt lag. Sau war klein. Während das Dorf Sokh Rot inmitten von früher fruchtbaren Obstgärten gelegen hatte, sah er hier als einzige Einkommensquelle die Ziegenherden, die auseinanderstoben, als sie näher kamen. In der Mitte des Dorfes hatte sich für einen so kleinen Ort eine große Menge versammelt, mehrere Hundert Männer standen dort, ein Vielfaches von dem, was man erwarten würde. Leo holte Nara und den Hauptmann ein.
– Was halten Sie davon?
Er deutete auf die Menge. Es trafen noch mehr Leute ein, sie kamen über die Pfade in den Bergen und aus dem Tal. Der Hauptmann musterte die Menge. Mit ausdrucksloser Miene sagte er ernst:
– Sie wollen die Zerstörung mit eigenen Augen sehen.
Leo schüttelte den Kopf und deutete auf die gegenüberliegende Seite des Tals.
– Warum durchqueren sie dann das Tal? Die Zerstörung können sie auch von der anderen Seite sehen. Warum kommen sie hierher?
Der Hauptmann antwortete nicht.
Beunruhigt stieg Leo die letzten Meter hinauf, ging in die Mitte des Dorfes und wurde von allen Seiten umringt.
Dorf Sau
118 Kilometer östlich von Kabul
Sieben Kilometer westlich
von Dschalalabad
Am selben Tag
Grob geschätzt gab es nicht mehr als vierzig Häuser, trotzdem standen in diesem kleinen Dorf so viele Männer, dass sie sich Schulter an Schulter drängten, der Dorfplatz war so voll wie der Markt in Kabul. Es waren Jungen dort, erwachsene Männer und Alte. Über die Bergpfade kamen noch mehr – so viele, dass manche schon auf die nächsthöhere Felsstufe ausgewichen waren. Sie hockten dort wie Krähen auf einer Telefonleitung. Das Dorf war zu einer Pilgerstätte geworden, die Menschen aus allen Himmelsrichtungen anzog. Einige trugen Geschenke bei sich: Krüge mit Ziegenmilch und Schalen mit getrockneten Früchten, Nüssen und Beeren, als würde ein religiöses Fest oder eine Hochzeit stattfinden. Die festliche Stimmung hätte Hauptmann Waschtschenko eigentlich nicht nervös machen sollen, aber er wirkte trotzdem angespannt. Die Speznas-Soldaten nahmen ihre Gewehre in Anschlag und gingen in Verteidigungsstellung, auch wenn keiner es wagte, die Waffen direkt auf die Dorfbewohner zu richten; von einer solchen Provokation hätte es kein Zurück gegeben.
Weil Leo klar war, wie schnell in dieser Situation Gewalt ausbrechen konnte, hob er die Arme, um zu zeigen, dass er keine Waffe bei sich trug. Er sagte auf Dari:
– Ich bin unbewaffnet. Wir sind hier, um zu reden.
Ihm war klar, wie wenig es bedeutete, dass er selbst keine Waffe hatte, solange er von einer schwer bewaffneten Spezialeinheit umringt war. Bei der Wand regloser Gesichter vor ihm konnte er nicht einmal erkennen, ob die Männer ihn verstanden hatten. Die Afghanen in den Städten konnten Leos Akzent gut verstehen, vielleicht war das in ländlichen Gebieten schwerer. Er wandte sich an Nara.
– Rede du mit ihnen. Versuch, sie zu beruhigen.
Nara trat neben Leo.
– Der Angriff auf das Dorf Sokh Rot war ein schrecklicher Fehler. So etwas hat die Regierung nicht gewollt. Wir möchten darüber reden, wie wir dieses Gebiet wieder aufbauen können. Wir wollen die Obstgärten neu anlegen und den Boden reinigen. Wir wollen, dass auf diesen Feldern wieder Früchte wachsen. Wir sind hier, um euch zuzuhören. Wir wollen mit euch arbeiten, nach euren Vorgaben.
Sie sprach ernsthaft, mit echtem Bedauern über die Zerstörung und dem ehrlichen Wunsch, eine verlorene Gemeinde wieder aufzubauen. Dieser Versuch, eine Versöhnung herbeizuführen, war offiziell der Grund ihres Besuchs, aber der Hauptmann war mit seinen Gedanken offensichtlich woanders. Er sah sich konzentriert um, bat nicht um eine Übersetzung und gab auch keine Anweisungen.
In der Menge kam eine lebhafte Diskussion auf, in einem lautstarken Streit schrien mehrere Stimmen durcheinander. Dann verstummte die Diskussion so schnell, wie sie aufgekommen war, und die Menge verfiel wieder in Schweigen. Leo sprang darauf an und ging auf die
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