Agent 6
Sänger heißt Sam Cooke. Kennen Sie ihn?
– Ich interessiere mich nicht für Musik.
Nachdem sie einen Moment lang zugehört hatten, sagte Leo:
– Ich kannte mal einen amerikanischen Sänger. Er war ein Kommunist und hat Moskau vor vielen Jahren besucht, als ich ein junger Mann war. Ich war für seine Sicherheit zuständig. Er hieß Jesse Austin. Seine Stimme klang ganz ähnlich. Allerdings hat Jesse Austin keine Popmusik gesungen.
Nara holte Stift und Papier vom Wohnzimmertisch und schrieb den Namen Jesse Austin auf, als wäre er ein Verdächtiger, gegen den sie ermitteln musste.
– Ich sehe mal, ob ich ihn morgen auf dem Basar finde.
Leo war nie auf die Idee gekommen, nach Jesse Austins Musik zu suchen.
– Sagen Sie Bescheid, wenn Sie etwas von ihm finden. Dann können wir es uns zusammen anhören.
Leo sah sich in ihrer Wohnung um und entdeckte in den Regalen ihre kommunistischen Bücher, die sie jetzt offen zeigte; wegen dieser Bücher hatte man sie umbringen wollen. Daneben besaß sie kaum etwas, ihre Wohnung war beinahe ebenso leer wie Leos. Das Lied ging zu Ende. Nach kurzem Knistern fing ein neues Lied an. Nara fragte:
– In Moskau haben Sie sicher ganz anders gelebt als hier, oder?
Leo nickte, bei dem neuen Thema war ihm unwohl zumute.
– Das stimmt.
– Vermissen Sie Ihre Familie?
Sie hatte ihn noch nie nach seinem Privatleben gefragt, und die Frage gefiel ihm gar nicht. Als er sich gerade verabschieden und in seine Wohnung zurückkehren wollte, fügte sie hinzu:
– Mein Vater soll hingerichtet werden.
Leos Ärger verrauchte. Er sagte:
– Ja, ich weiß.
– Meine Mutter kommt ins Gefängnis. Mein Bruder auch. Ich habe noch nie ohne meine Familie gelebt.
– Es wird schwer werden.
Mit einer Mischung aus Einsamkeit und Entschlossenheit blickte sie Leo in die Augen. Er bekam Mitleid mit ihr.
– Wird es irgendwann leichter?
Leo schüttelte den Kopf.
– Man lernt, damit umzugehen.
Leo hatte ihre Wohnung nicht betreten, er war auf der Schwelle stehen geblieben, um ihr Anstandsgefühl nicht zu verletzen. Sie hatte ihn nicht hereingebeten. Für ihre Kultur wäre das unpassend gewesen. Aber er spürte, dass sie sich wünschte, er würde bleiben und fragen, ob er hereinkommen durfte. Sie selbst konnte sich nicht überwinden. Schließlich sagte Leo:
– Versuchen Sie, etwas zu schlafen.
Beim Gehen zwang er sich, nicht zurückzublicken, um zu sehen, ob sie ihn beobachtete.
Vor seiner Tür blieb Leo stehen. Er stellte sich Nara allein in dieser kahlen, frisch gestrichenen, seelenlosen Wohnung vor. Es war lächerlich, dass er überlegte, ob er zurückgehen sollte. Sie hatte ihre Familie verloren. Natürlich wünschte sie sich Gesellschaft. War ihre Einsamkeit auch der Grund, aus dem er bei ihr sein wollte? Sie befanden sich beide in der gleichen Situation, sie waren allein, Außenseiter. Es musste ja nicht peinlich werden. Was wäre falsch daran, wenn sie Freundschaft schlossen? Langsam drehte er sich um.
Nara stand in der Tür. Sie hatte sie nicht geschlossen, sah Leo aber auch nicht an. Hauptmann Waschtschenko war am Ende des Gangs aufgetaucht. Er kam mit einer zusammengerollten Karte unter dem Arm auf sie zu.
– Ich muss mit Ihnen beiden reden. Gehen wir in Leos Wohnung.
Nara wartete, bis der Hauptmann vorbeigegangen war, bevor sie ihre Wohnung verließ und ihm folgte. Leo konnte ihren Gesichtsausdruck nicht sehen.
In Leos Wohnung breitete der Hauptmann die Karte auf dem Tisch aus. Dass Leo eine Opiumpfeife hatte, schien ihn nicht sonderlich zu interessieren. Der Hauptmann nahm seine Pistole aus dem Holster, um die Karte zu beschweren. Sie zeigte Berge und ein Tal in der Nähe von Dschalalabad, unweit der pakistanischen Grenze. Der Hauptmann erklärte:
– Ich bin ja schon von einer Verbindung zwischen den Morden in Kabul und dem fehlgeschlagenen Bombenattentat auf den Sarobi-Staudamm ausgegangen. Und ich hatte recht. Dost Mohammad hat hinter den Morden in Kabul gesteckt. An der Staumauer haben wir die Leiche von Samir Mohammad gefunden, einem bekannten Bombenbauer. Die beiden waren Brüder. Unserer Quelle zufolge gab es insgesamt vier Brüder, neben den beiden einen Jungen namens Sayed und einen Kämpfer namens Fahad. Er ist ein gefürchteter Mann. Die ganze Familie besteht aus Aufständischen. Sie wollen Kabul ins Chaos stürzen. Vor drei Tagen haben wir ein Team zu ihrem Heimatdorf in der Nähe von Dschalalabad geschickt. Zwei Krokodil-Hubschrauber sollten
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