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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Stelle zu, an der die Diskussion ausgebrochen war. Er musterte die Gesichter der Dorfbewohner und blieb schließlich neben einem älteren Mann mit einem beeindruckenden, feuerroten Bart stehen. Der Trotz in seinen Augen leuchtete so hell wie sein Bart. Dieser Mann war ungemein stolz, die Worte wollten aus ihm herausdrängen, er wollte etwas sagen. Es kostete ihn Mühe, stumm zu bleiben. Leo schätzte, dass der geringste Anstoß reichen würde.
    – Der Angriff auf Sokh Rot war eine schreckliche Tat. Helft uns. Gebt uns einen Rat. Wie können wir es wiedergutmachen?
    Wie erwartet konnte der Mann sich nicht mehr zurückhalten. Er deutete auf die verkohlte Erde, wo das Dorf gestanden hatte.
    – Euch helfen? Ich sage dir, wie wir euch helfen. Wir werden euch besiegen. Wir werden euch aus diesem Land vertreiben. Und ihr werdet uns danken, weil ihr nicht hierhergehört. Ihr habt die besseren Waffen. Aber keine Waffe von Menschenhand kann sich mit der Macht von Allah messen. Seine Liebe wird uns beschützen. Er hat uns als Beweis dafür ein Zeichen geschickt.
    Die Menge reagierte lautstark. Mehrere Männer riefen ihm zu, er solle ruhig sein. Leo fragte:
    – Was für ein Zeichen?
    Wieder kamen Rufe auf, er solle still sein, aber der alte Mann wollte reden.
    – Ein Kind hat überlebt! Ein gesegneter Junge! Seht euch die vielen Menschen an, die das Wunder selbst erleben wollen! Seht euch an, wie es sie begeistert. Verschwindet aus unserem Dorf. Wir wollen eure Hilfe nicht. Wir bauen unser Land ohne euch wieder auf!
    Die Menge nahm seinen Ruf auf.
    – Verschwindet!
    In einen Teil der Menschen kam Leben, sie klatschten und johlten, während die vorsichtigeren Zuhörer verärgert das Gesicht verzogen und dem Mann mit den hitzigen Worten zuriefen, er solle ruhig sein. Leo hakte sofort nach.
    – Ein Überlebender? Ein Junge?
    Der alte Mann wurde weggebracht. Als Leo ihm folgen wollte, versperrten ihm mehrere Männer den Weg.
    Hauptmann Waschtschenko schob sich durch die Menge, er wollte mehr hören.
    – Was ist hier los?
    Leo erklärte:
    – Es sind nicht alle gestorben. Ein Kind hat den Angriff überlebt. Sie sagen, es ist ein Wunder.
    Der Hauptmann wirkte nicht überrascht. Leo fragte:
    – Wussten Sie von dem Kind?
    Waschtschenko stritt es nicht ab.
    – Wir haben Gerüchte gehört. Erst kamen die Geschichten über den Angriff, dann Geschichten über einen Jungen. Sie glauben, dieser Junge wäre ein Beweis dafür, dass sie den Kommunismus besiegen werden. Unsere Quellen in Kabul sagen, dieses Wunderkind hätte sich in wenigen Tagen zu einem wertvollen Propagandamittel entwickelt. Sie singen Gedichte darüber, der Junge wäre von der Hand Gottes geschützt worden. Das ist lächerlich. Aber allein gestern ist die Anzahl an Deserteuren in der afghanischen Armee um dreihundert Prozent gestiegen. Außerdem haben wir fünf Polizisten verloren, weil einer die Waffe gegen seine Kameraden gerichtet hat. Dieses Wunder scheint wichtiger zu sein als der Angriff.
    Langsam begriff Leo, warum sich der Hauptmann für die Sache interessierte – ein ausgebombtes Dorf war seine Aufmerksamkeit kaum wert, aber ein Wunder schon. Nara kam zu ihnen. Sie hatte nicht mitbekommen, was sich getan hatte, und sagte:
    – Wir sollten gehen. Hier sind zu viele Menschen. Wir können nicht verhandeln.
    Die Menge hatte sich noch nicht beruhigt. Der Hauptmann schüttelte den Kopf.
    – Sagen Sie ihnen, dass ich das Kind sehen will.
    Leo war perplex.
    – Sie werden sich weigern. Das wäre für sie eine Beleidigung. Nara hat recht, wir sollten jetzt gehen. Wir können wiederkommen, wenn die Stimmung nicht mehr so unberechenbar ist.
    Als hätte Leo nichts gesagt, wiederholte der Hauptmann:
    – Sagen Sie ihnen, dass ich das Kind sehen will. Übersetzen Sie das.
    Leo gab nicht nach.
    – Wir können wiederkommen, wenn nicht mehr so viele Menschen hier sind.
    Der Hauptmann wandte sich an Nara.
    – Ich will das Kind sehen.
    Als Nara den Befehl bekam, wandte sie sich mit lauter Stimme an die Menge.
    – Mit eurer Erlaubnis möchten wir das Wunderkind mit eigenen Augen sehen.
    Die Bitte rief wütende Reaktionen hervor. Sie wurde hundertfach abgelehnt; einige Männer rissen die Arme hoch, andere beschimpften sie laut. Jemand warf einen Stein, der Nara seitlich im Gesicht traf. Sie fiel zu Boden und hielt sich die Wange. Bevor Leo sie erreichen konnte, fielen Maschinengewehrschüsse. Der Hauptmann hielt seine Waffe in den Himmel gerichtet. Die

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