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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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war William bereit, sich an die Zeit von Jesse Austins Tod zu erinnern. Er erzählte, dass sein Vater über Austin gesprochen hatte und wütend war, weil die Leute im Viertel sich bespitzelt und verdächtigt fühlten.
    – Mein Vater hat sich ständig über Jesse aufgeregt. Er meinte, er wäre ein Störenfried. Aber an dem Abend, an dem Jesse erschossen wurde, hat mein Vater nicht gesagt, er hätte es verdient oder so was. Er hat etwas getan, womit ich nie gerechnet hätte. Er hat geweint. Ich weiß noch, wie komisch ich es fand, dass er über Jesse nie ein nettes Wort verloren hat und dann weint, als der Mann erschossen wird. Ich war noch jung, ich dachte, das passt nicht zusammen.
    William hatte sie zu einem Restaurant gebracht, das Nelson’s hieß, er hatte den Laden geschlossen und eingewilligt, Leo und Nara den Weg zu zeigen. Bei seinen ausgiebigen Erkundungstouren durch das Viertel war Leo an dem Restaurant bereits vorbeigekommen, aber weil es mehrere Blocks von Austins Wohnung entfernt lag und neu aussah, hatte er es nie betreten. Elena hatte es nicht in ihrem Tagebuch erwähnt, und auch in den Zeitungsartikeln über Austin hatte er nichts darüber gefunden. Unterwegs war William einigermaßen aufgetaut, höchstwahrscheinlich wegen Nara. Er hatte Gefallen an ihr gefunden, und Leo merkte, dass sie sich geschmeichelt fühlte. William war ein gutaussehender Mann.
    Im Gegensatz zu dem Eisenwarenladen, der aussah, als hätte man ihn seit dreißig Jahren weder umdekoriert noch modernisiert, war das Restaurant vor Kurzem renoviert worden. William deutete wie ein Fremdenführer auf die Fassade.
    – Lassen Sie sich nicht täuschen. Das Restaurant steht schon länger, als ich lebe. Nelson hieß der Mann, der es eröffnet hat, er war mit meinem Vater befreundet. Die beiden haben ihre Geschäfte aus dem Nichts heraus aufgebaut. Das Restaurant war das beliebteste im ganzen Viertel, bis …
    Statt den Satz zu beenden, fuhr er fort:
    – Aber das ist nicht meine Geschichte, ich sollte sie nicht erzählen.
    Die Kellnerinnen im Restaurant ließen es nach der Mittagsschicht etwas ruhiger angehen, die Tische wurden abgeräumt, nur wenige Gäste waren geblieben. Ältere Männer, die aussahen, als müssten sie nirgends eilig hin, hielten sich an ihren Kaffeetassen fest. William berührte eine Kellnerin am Arm.
    – Können wir mit Yolande reden?
    Die Kellnerin bedachte Leo und Nara mit einem prüfenden Blick, bevor sie sich umdrehte und durch die Küche in ein Büro verschwand. Es vergingen mehrere Minuten, bevor sie mit einer Frau in den Dreißigern herauskam. Die Frau trug einen Hosenanzug, sie war groß und beeindruckend. Sie musterte Leo und Nara ausgiebig, bevor sie näher kam und ihnen die Hand schüttelte. William hatte vorher angerufen, die Frau hatte sie bereits erwartet.
    – Schön, dich zu sehen, Willie.
    Sie streckte Leo die Hand entgegen.
    – Ich heiße Yolande.
    Leo und dann Nara schüttelten ihr die Hand. Leo stellte sich vor.
    – Mein Name ist Leo Demidow. Das ist meine Freundin Nara Mir.
    Sie lächelte.
    – Reden wir lieber in meinem Büro.
    Im Gegensatz zu ihrer tadellosen Kleidung befand sich ihr Büro in einem chaotischen Zustand. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Unterlagen und Aktenordner. Gerahmte Fotos und Zeitungsausschnitte hingen an der Wand. Ohne auf eine Erlaubnis zu warten, betrachtete Leo die Bilder. Erst nach einem Moment bemerkte er, dass Yolande neben ihm stand. Er wich zurück und errötete über seine Unhöflichkeit. Sie bedeutete ihm, sich nicht stören zu lassen.
    – Sehen Sie sich die Bilder ruhig an.
    Die meisten Fotos zeigten denselben Mann, aber nicht Jesse Austin – diesen Mann erkannte Leo nicht. Yolande sagte:
    – Das ist mein Vater, Nelson, in seiner Zeit als Bürgerrechtler.
    Sie zeigte auf eines der Bilder, bewegte den Finger weg von ihrem Vater auf die Menschenmenge zu und hielt bei dem Gesicht eines jungen Mädchens inne.
    – Das bin ich.
    Leo bemerkte, dass sie nicht so engagiert wirkte wie die Demonstranten um sie herum, sie sah in dem Gedränge verloren aus. Yolande fragte ernsthaft interessiert:
    – Sie waren mit Raisa Demidowa verheiratet?
    Leo nickte.
    – Sie hat Jesse Austin nicht getötet.
    Yolande lächelte freundlich, wie eine wohlwollende Lehrerin.
    – Das weiß ich. Jeder, der hier lebt, weiß das. In Harlem glaubt niemand, dass Ihre Frau jemanden getötet hat, Mr. Demidow. Dieses Viertel ist vielleicht der einzige Ort auf der Welt, an dem

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