Agent 6
endlich im Katalog die Referenznummer des Koffers nachschlagen. Irgendwann ließ Clarke ihn allein, und er konnte die Einträge lesen. Die Nummern folgten einem komplexen System. Er hatte sich die Codenummer des Koffers gemerkt und fand den entsprechenden Eintrag. Die Beschreibung lautete:
UNTERSUCHUNG
ROTE STIMME 1965 NY
Er schlug in seinem Wörterbuch nach. Der Begriff ROT bezog sich beinahe sicher auf den Kommunismus, auf eine bekannte kommunistische Stimme – damit musste Jesse Austin gemeint sein.
Leo starrte auf die Kodierungsnummern und versuchte herauszufinden, wie er die anderen Dokumente zu dieser Untersuchung aufspüren konnte. Weil er das System nicht knacken konnte und nicht um Hilfe bitten wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als mit dem Finger auf der Seite alle Einträge durchzugehen. Nachdem er den halben Katalog geschafft und dabei darauf geachtet hatte, dass Clarke nichts davon mitbekam, stockte sein Finger bei den Worten:
UNTERSUCHUNG
ROTE STIMME
Er schrieb den Standort des Kartons auf, Code 35/9/3.3, schlug den Katalog zu und steckte das Papier in die Tasche.
Dann stand er auf und sah vorsichtig nach Clarke. Der saß in seinem Büro und war beschäftigt. Leo versuchte sein Glück und lief schnell zu Gang 35. Dort wandte er sich nach rechts und fuhr mit der Hand über die Zahlen, bis er beim neunten Abschnitt ankam. Der Karton stand als dritter in der Reihe im obersten Regal. Leo war so aufgewühlt, dass seine Arme zitterten, als er danach griff. Der Karton war schwer, Leo hatte damit zu kämpfen, bevor er ihn abstellen konnte. Als hätte er eine Schatulle mit wertvollen Schätzen vor sich, hob er langsam den Deckel.
Darin lagen ein Haufen Dokumente, Einzelheiten über das Konzert bei den Vereinten Nationen, ein Programm. Dazu offizielle Briefe vom Kreml über die Reise, die Tournee »Schüler für den Frieden«, über die Planung und den genauen Ablauf. Als ehemaliger Agent hatte Leo in den vielen Jahren, in denen er Papiere und persönlichen Besitz durchsucht hatte, ein ausgeprägtes Gespür dafür entwickelt, welche Informationen wichtig waren. Im Karton lagen offizielle Staatsdokumente. Sie enthüllten nicht mehr als die funkelnde Fassade der Tournee. Dann berührten seine Finger am Boden des Kartons etwas Hartes, einen Buchrücken – es war ein Tagebuch.
Leo las den ersten Eintrag, er erinnerte sich so genau an die Worte, als hätte er sie selbst geschrieben.
Zum ersten Mal im Leben habe ich das Bedürfnis, meine Gedanken festzuhalten.
Harlem
Bradhurst
West 145th Street
Drei Tage später
Auf dem Rücksitz eines Taxis umklammerte Leo ein Notizbuch, in das er die wichtigsten Einzelheiten aus Elenas Tagebuch geschrieben hatte. Weil er nicht das ganze Tagebuch stehlen konnte, hatte er im Archiv in jedem unbeobachteten Moment darin gelesen. Die Aufzeichnungen reichten bis zu dem Nachmittag vor dem Konzert, dem letzten Tag, an dem Raisa gelebt hatte. Nachdem Elena von ihrem Treffen mit Jesse Austin in Harlem in das Hotel zurückgekehrt war, war sie zu ihrem Zimmer begleitet worden. Während der Vorbereitungen für die Kostümprobe hatte sie sich ins Bad gestohlen und einen letzten Eintrag verfasst. Diese hastig hingekritzelte Seite war fraglos die wichtigste. Leo hatte sie aus dem Tagebuch gerissen und zusammen mit seinen Notizen in einer Socke versteckt aus dem Archiv geschmuggelt.
Der Großteil des Tagebuchs enthielt Informationen, die Elena ihm bereits nach ihrer Rückkehr nach Moskau erzählt hatte, darunter die Schilderung, wie sich der Propagandaoffizier Mikael Iwanow ihr genähert hatte und wie sich die Beziehung zwischen ihnen entwickelte. Es brach ihm das Herz und machte ihn gleichzeitig wütend, als er ihren Gefühlen folgte und las, wie sie auf die Märchen über Liebe und hehre Absichten hereinfiel, die der Verräter gesponnen hatte. Sie hatte ehrlich geglaubt, durch ihren Auftrag sollte Jesse Austin gezeigt werden, dass er im kommunistischen Russland noch immer verehrt wurde. Ihr Idealismus war mindestens so groß wie ihre Liebe zu Iwanow. Alles, was sie getan hatte, jeder Fehler, war aus Liebe geschehen. Leo konnte nur vermuten, dass dies auch der Grund war, sie für die Operation ins Auge zu fassen. Als er die honigsüßen Worte las, mit denen Iwanow seine Tochter verführt hatte, fragte er sich unwillkürlich, ob er als Vater versagt hatte, ob er seine Kinder vor der Welt der Täuschungen hätte schützen müssen, die seinen Beruf ausmachte. Wenn er ihnen eines
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