Agent 6
Zeit und Sorgfalt. Er hatte in seinem Leben schon viele Tagebücher untersucht. Oft wurden Einträge eilig hingekritzelt, die Worte ohne langes Nachdenken auf das Papier geworfen. Sorgfältige Umformulierungen waren ein vielversprechender Hinweis darauf, dass das Tagebuch wertvolle Geständnisse enthielt.
Der erste Eintrag war ein Jahr alt, und Leo fragte sich, ob mit ihm nur dieser Band oder das ganze Tagebuchschreiben begonnen hatte. Seine Frage wurde mit dem ersten Satz beantwortet:
Zum ersten Mal im Leben habe ich das Bedürfnis, meine Gedanken festzuhalten.
Leo klappte das Tagebuch ruckartig zu. Er war kein Agent mehr, er arbeitete nicht mehr für die Geheimpolizei. Das war auch nicht die Wohnung eines Verdächtigen – es war seine eigene Wohnung. Und dieses Tagebuch gehörte seiner Tochter.
Als Leo das Heft zurück in sein dürftiges Versteck legen wollte, hörte er den Schlüssel in der Wohnungstür. In einem Anfall von Panik schätzte er, dass ihm nicht mehr genug Zeit blieb, es zurückzulegen – man würde ihn auf frischer Tat ertappen. Rasch versteckte er die Hände und das Tagebuch hinter dem Rücken. Er ging einen Schritt auf die Tür zu, weg vom Bett, und blickte auf, wie ein Soldat in Habachtstellung.
Raisa, seine Frau, sah ihn von der Tür aus an. Sie war allein und trug eine Tasche bei sich. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, verschwand sie im Schatten. Selbst im Dunkeln spürte Leo ihren prüfenden Blick. Seine Wangen glühten vor Verlegenheit, die eine andere Art von Hitze war als die Wärme des Tages, ein Brennen unter seiner Haut. Raisa war zu seinem Gewissen geworden. Er konnte sie nicht anlügen, und er traf selten wichtige Entscheidungen, ohne sich vorzustellen, wie sie darauf reagieren würde. Ihre moralische Stärke übte eine Anziehungskraft auf ihn aus, die so mächtig war wie die Gezeiten. Je enger seine Beziehung zu Raisa geworden war, desto weniger fühlte er sich dem Staat zu Treue verpflichtet – er fragte sich, ob er das schon vorher vermutet hatte, ob er gewusst hatte, dass seine Ehe mit dem MGB enden würde, wenn er sich in Raisa verliebte. Jetzt arbeitete Leo als Werksleiter einer kleinen Fabrik, überwachte Lieferungen, schrieb Quittungen und genoss bei der Belegschaft den Ruf, extrem gerecht zu sein.
Sie kam einen Schritt näher und trat aus dem Schatten ins Sonnenlicht. In Leos Augen war sie noch schöner, als sie es als junge Frau gewesen war. Kleine Fältchen umgaben ihre Augen, ihre Haut war nicht mehr ganz so straff und zart wie früher. Ihre Züge waren dadurch sanfter geworden. Leo liebte dieses Gesicht mehr als jedes Ideal von jugendlicher Schönheit oder Perfektion. Er hatte diese Veränderungen miterlebt, sie waren eingetreten, während er bei ihr war, sie waren Zeichen ihrer Beziehung, der gemeinsamen Jahre, und sie erinnerten ihn an die wichtigste Veränderung von allen. Jetzt liebte sie ihn. Früher hatte sie das nicht getan.
Unter ihrem Blick verwarf Leo den Plan, das Tagebuch unbemerkt zurückzulegen, und zeigte es ihr stattdessen. Er streckte es ihr entgegen. Raisa nahm es nicht an, sie betrachtete nur den Einband. Er sagte:
– Es gehört Elena.
Elena war ihre jüngere Tochter, siebzehn Jahre alt und zu Anfang ihrer Ehe adoptiert.
– Warum hast du es?
– Ich habe es unter ihrer Matratze gesehen …
– Sie hat es versteckt?
– Ja.
Raisa dachte kurz darüber nach, bevor sie fragte:
– Hast du es gelesen?
– Nein.
– Nein?
Wie ein Anfänger bei einem Verhör kapitulierte Leo beim geringsten Druck.
– Ich habe die erste Zeile gelesen und es dann zugeklappt. Ich wollte es gerade zurücklegen.
Raisa ging zum Tisch und stellte ihre Einkäufe ab. In der Küche schenkte sie sich ein Glas Wasser ein, dabei drehte sie Leo zum ersten Mal den Rücken zu, seit sie zu Hause war. Sie trank das Wasser in drei langen Schlucken, dann stellte sie das Glas in die Spüle und fragte:
– Und wenn nicht ich nach Hause gekommen wäre, sondern die Mädchen? Sie vertrauen dir, Leo. Es hat lange genug gedauert, bis es so weit war. Würdest du das aufs Spiel setzen?
Vertrauen war ein Euphemismus für Liebe. Er war nicht sicher, ob Raisa nur über ihre Adoptivtöchter sprach oder indirekt auch auf ihre eigenen Gefühle anspielte. Sie fuhr fort:
– Warum willst du sie an die Vergangenheit erinnern? An den Menschen, der du warst? Und an deinen früheren Beruf? Du hast so viele Jahre gebraucht, um das alles hinter dir zu lassen. Wir wollen
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