Agent 6
die Kommunistische Jugend geschrieben war und dazu aufrief, neue Städte und Straßen zu bauen. Die hinzugefügte Orchesterbegleitung machte aus einer Propagandahymne eine bewegende Darbietung. Leo war über den Effekt von Austins Stimme überrascht, die den polemischen Text fast vergessen ließ. Sie war kraftvoll und innig zugleich. Und sie erfüllte die ganze riesige Halle. Leo war sich sicher, dass jeder im Publikum das Gefühl hatte, Austin würde nur für ihn singen. Er fragte sich, wie es wohl war, eine Stimme zu besitzen, die Männer zu Tränen rühren konnte, eine Stimme, die einen Saal mit Tausenden von müden Arbeitern zum Verstummen brachte und besänftigte. In der ersten Reihe suchte er nach Raisa. Sie konzentrierte sich auf Austin, seine Stimme hatte auch sie ganz in ihren Bann geschlagen. Leo fragte sich, ob sie ihn auch jemals so voller Bewunderung ansehen würde.
Gegen Ende des Liedes brach im hinteren Teil des Lagerhauses Unruhe aus. Einige Zuhörer drehten sich um und starrten in die Dunkelheit. Leo trat vor, kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, woher der Lärm kam. Dann tauchte ein Mann aus den Schatten auf, er trug eine Uniform des MGB , sein Hemd hing heraus, seine Hose war schmutzig. Er wirkte völlig verstört und schwankte wild hin und her. Es dauerte einen Moment, bis Leo ihn erkannte – es war Grigori, sein Protegé.
Leo rannte an den anderen Agenten vorbei, um ihn abzufangen. Er hielt seinen Schützling am Arm fest. Grigori stank nach Alkohol. Obwohl er sich mit diesem misslichen Auftritt in extreme Gefahr gebracht hatte, schien Grigori Leo gar nicht wahrzunehmen. Laut, langsam und unstet applaudierte er Austin. Als Leo ihn aus dem Lagerhaus ziehen wollte, knurrte Grigori wie ein bösartiger Hund.
– Fass mich nicht an.
Leo nahm Grigoris Kopf fest zwischen die Hände, blickte ihm direkt in die Augen und forderte ihn eindringlich auf:
– Reiß dich zusammen. Was machst du hier?
Grigori antwortete:
– Geh mir aus dem Weg!
– Hör mir zu –
– Dir zuhören? Ich wünschte, ich hätte nie deine Stimme gehört.
– Was ist mit dir passiert?
– Mit mir! Nein, nicht mit mir, mit jemand anderem, Leo, mit der Künstlerin, Polina, weißt du noch? Die Frau, die ich liebe? Sie haben sie verhaftet. Obwohl ich dir nicht gehorcht und die Seite herausgerissen habe …
Grigori hielt die Seite aus dem Tagebuch hoch, auf der die Skizze der Freiheitsstatue war.
– Es stand nichts im Tagebuch, trotzdem haben sie sie verhaftet, ich habe dir nicht gehorcht und die Seite rausgerissen, trotzdem haben sie sie einfach verhaftet!
Er wiederholte sich. Er lallte, seine Sätze flossen wie bei einem Singsang ineinander. Leo wollte ihn unterbrechen:
– Dann lassen sie sie wieder gehen, und die Sache ist vorbei.
– Sie ist tot!
Er schrie die Worte heraus. Mittlerweile hatte sich ein guter Teil der Zuhörer von Austin zu Grigori umgewandt. Er sprach weiter, jetzt im Flüsterton.
– Sie haben sie gestern Abend verhaftet. Sie hat die Befragung nicht überlebt. Ein schwaches Herz, haben sie mir gesagt. Ein schwaches Herz … ein schwaches Herz! War das ihr Verbrechen, Leo? Wenn das ein Verbrechen ist, solltest du mich auch verhaften. Verhafte mich, Leo. Verhafte mich. Klage mich an, ich hätte ein schwaches Herz. Ich hätte lieber ein schwaches Herz als ein starkes.
Leo wurde übel.
– Grigori, du bist durcheinander, hör mir zu –
– Du sagst immer, ich soll dir zuhören. Aber das tue ich nicht mehr, Leo Demidow. Ich höre dir nicht mehr zu! Deine Stimme widert mich an.
Andere Agenten kamen auf sie zu, einige erhoben sich aus dem Publikum. Grigori stürzte vor, rannte die Treppe zur Bühne hinauf, am Orchester vorbei und auf Austin zu. Leo lief ihm nach bis zur Treppe, blieb dann aber stehen. Wenn er versuchte, Grigori von der Bühne zu holen, würde es in einer Prügelei enden. Die Kameras liefen. Tausende Menschen sahen zu.
*
Grigori blieb stehen und blinzelte ins grelle Scheinwerferlicht. Er wollte die Wahrheit herausschreien. Er wollte ihnen sagen, dass eine unschuldige Frau ermordet worden war. Aber als er die Gesichter der Zuhörer in den ersten Reihen klar erkennen konnte, begriff er, dass sie es längst wussten – nicht, dass Polina tot war, aber sie kannten ihre Geschichte, sie hatten sie schon oft gehört. Sie mussten sie nicht mehr von ihm hören. Sie wollten es nicht. Niemand wollte, dass er etwas sagte. Sie hatten Angst, nicht um ihn, sondern
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