Agent 6
längst nicht mehr. Dieser Koffer, der sonst hinten im Kleiderschrank Staub ansetzte, war das einzige Überbleibsel aus dieser Zeit. Er hatte ihn wegwerfen wollen und erwartet, dass seine Frau sich darüber freuen würde. Aber obwohl Raisa seinen früheren Beruf hasste, gestattete sie ihm diese symbolische Geste nicht. Bei ihrem derzeitigen Einkommen würden sie den Koffer nie ersetzen können.
Er sah auf die Uhr, die er am Fenster ins Mondlicht hielt. Vier Uhr morgens – in wenigen Stunden würde er seine Familie zum Flughafen bringen, sich von ihr verabschieden und allein in Moskau bleiben. Er zog sich im Dunkeln an und schlich aus dem Schlafzimmer. Als er die Tür öffnete, sah er zu seiner Überraschung seine jüngere Tochter im Dunkeln am Küchentisch sitzen. Tief in Gedanken versunken hielt sie die Arme vor sich, mit gefalteten Händen, als würde sie beten. Die siebzehnjährige Elena wirkte auf Leo wie ein Wunder: Sie war scheinbar weder zu Bosheit noch Argwohn fähig und ohne größeren Kummer durchs Leben gegangen, ganz im Gegensatz zu seiner älteren Tochter Soja, die häufig schroff, missmutig und aggressiv war und bei der geringsten Provokation aufbrausen konnte.
Elena blickte zu ihm auf. Er spürte den Anflug eines schlechten Gewissens, als er an ihr Tagebuch dachte, aber dann beruhigte er sich damit, dass er es zurückgelegt hatte, ohne über den ersten Satz hinauszulesen. Er setzte sich neben sie und flüsterte:
– Kannst du nicht schlafen?
Sie blickte zu Soja am anderen Ende des Zimmers hinüber. Um nicht das Licht einzuschalten und ihre Schwester zu wecken, zündete Leo einen Kerzenstummel an, ließ etwas Wachs in ein Teeglas tropfen und steckte die Kerze darin fest. Ohne eine Antwort starrte Elena wie hypnotisiert in das gebrochene Licht der Flamme. Er hatte recht, als er gesagt hatte, sie würde sich seltsam benehmen. Normalerweise war sie nicht so still und angespannt. Hätten sie bei einem Verhör gesessen, wäre Leo sicher gewesen, dass sie in irgendwas verstrickt war. Aber Leo war nicht mehr bei der Geheimpolizei, und es ärgerte ihn, dass seine Gedanken immer noch den Mustern folgten, die er einmal gelernt hatte.
Er holte ein Kartenspiel hervor. Etwas anderes hatten sie in den nächsten Stunden nicht zu tun. Während er mischte, fragte er sie leise:
– Bist du nervös?
Elena sah ihn seltsam an.
– Ich bin doch kein Kind mehr.
– Das weiß ich.
Sie war böse auf ihn. Er hakte nach.
– Stimmt irgendwas nicht?
Den Blick auf ihre Hände gerichtet dachte sie lange nach, bevor sie kopfschüttelnd antwortete:
– Ich bin nur noch nie geflogen. Es ist albern.
– Würdest du es mir sagen, wenn etwas nicht in Ordnung wäre?
Sie nickte.
– Ja, würde ich.
Er glaubte ihr nicht.
Beim Austeilen versuchte Leo erfolglos, sich einreden, es sei richtig gewesen, ihnen die Reise nicht zu verbieten. Er hatte so lange wie möglich Einwände vorgebracht und erst aufgegeben, als er sich falsch verstanden fühlte. Als wäre er nur dagegen, weil er nicht mitkommen durfte. Seine Entscheidung, den KGB zu verlassen, würde ewig als Makel in seiner Akte stehen. Man würde ihm nie eine Auslandsreise genehmigen. Es wäre ungerecht, wenn das auch seine Familie zurückhalten sollte. Solch eine Gelegenheit ergab sich nur äußerst selten. Vielleicht würden sie nie wieder die Chance dazu bekommen.
Noch bevor sie eine halbe Stunde Karten gespielt hatten, stand Raisa in der Tür. Sie lächelte, was sich zu einem Gähnen auswuchs, dann setzte sie sich zu ihnen, um ins Spiel einzusteigen, und grummelte:
– Ich hatte mir schon gedacht, dass ich nicht durchschlafen kann.
Auf der anderen Zimmerseite ertönte ein lauter, demonstrativer Seufzer. Soja setzte sich im Bett auf. Sie zog das Laken, das als Abtrennung diente, zur Seite und blickte zu den Kartenspielern. Leo entschuldigte sich sofort.
– Haben wir dich geweckt?
Soja schüttelte den Kopf.
– Ich konnte nicht schlafen.
Elena sagte:
– Hast du uns zugehört?
Während Soja zu ihnen ging, lächelte sie ihre Schwester an.
– Nur, um einzuschlafen.
Sie setzte sich auf den letzten Stuhl. Mit ihrem zerzausten Haar gaben die vier im Kerzenschein einen komischen Anblick ab. Leo teilte an alle aus. Er sah zu, wie seine Familie ihre Karten aufnahm. Hätte er die Macht dazu besessen, hätte er die Zeit angehalten, die nahende Dämmerung abgewehrt, die Sonne nicht aufgehen lassen und für alle Ewigkeit den Moment hinausgezögert, in dem
Weitere Kostenlose Bücher