Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
Vom Netzwerk:
er sich verabschieden musste.

Manhattan
U-Bahn-Station Second Avenue
Am selben Tag
    Gemächlich verließ Osip Feinstein die U-Bahn-Station und schlenderte ungezwungen die Straße entlang. Er gab sich wie ein exzentrischer Gentleman, den das Glück verlassen hatte. Eine wirkungsvolle Täuschung, weil sie sich nicht allzu weit von der Wahrheit entfernte. Sein langsamer Gang war ein plumper Trick, um herauszufinden, wer ihn beschattete. Meist folgten ihm junge FBI -Agenten, die schlicht nicht dazu fähig waren, lässig zu wirken, sie hielten sich so kerzengerade, als wäre nicht nur ihr Hemd gesteift, sondern ihre Haut gleich mit. Osip wurde in der Regel einmal im Monat beschattet, scheinbar eher als Schikane des FBI denn als gezielter Versuch, Beweise gegen ihn zu sammeln. Aber seit einem Monat folgte ihm jeden Tag jemand. Die Überwachung hatte sich dramatisch verschärft. Auch Mitglieder der Kommunistischen Partei der USA berichteten von verstärkten Aktivitäten des FBI . Sie taten Osip leid. Die überwiegende Mehrheit von ihnen waren keine Spione. Sie glaubten an die Idee des Kommunismus, hegten Träume von Revolutionen, Gleichheit und Gerechtigkeit – als Mitglieder einer legitimen politischen Partei. Doch es zählte nicht, dass der Kommunismus an sich kein Verbrechen war. Ihre politische Zugehörigkeit genügte, damit man ihr Leben genau durchleuchtete. Sie wurden mit Anschuldigungen verfolgt. Man zeigte ihren Arbeitgebern Akten, die reine Spekulationen darüber enthielten, was die Angestellten in ihrer Freizeit taten, und die mit den Worten schlossen:
    Jede Firma wird nach dem Verhalten ihrer Angestellten beurteilt.
    Darunter stand eine Telefonnummer. Die Arbeitgeber sollten für den Staat spionieren. In diesem Jahr hatten bisher drei Männer ihre Stellen verloren. Einer hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten, als man seine Familie, seine Freunde und flüchtigen Bekannten zu Vernehmungen vorlud. Eine Frau verließ nicht mehr das Haus, weil sie überzeugt davon war, man würde sie beobachten.
    Osip hielt an, blickte sich um und musterte die Leute hinter sich. Niemand blieb stehen oder sah ihn an. Unvermittelt überquerte er die Straße und schlenderte vielleicht hundert Meter, bevor er mit raschen Schritten weiterging. Er bog in eine Straße ab, dann in eine zweite und kam fast dort wieder heraus, wo er losgegangen war. Dann musterte er noch einmal die Menschen hinter sich, bevor er seinen ursprünglichen Weg einschlug.
    Das Treffen fand in einem hässlichen Flachbau statt, der in der Sommersonne schmorte, voll heruntergekommener Immigranten wie ihm. Vielleicht nicht genau wie ihm, er bezweifelte doch, dass die meisten von ihnen Spione waren, obwohl man sich nie sicher sein konnte. Vor dem Eingang drückten sich Leute herum, manche saßen in der warmen Abendluft auf den Stufen vor dem Haus. Osip trug fadenscheinige Kleidung, sein Gesicht war fahl. Niemand beachtete ihn; vielleicht passte er ins Bild, vielleicht interessierten sich die Leute einfach nicht für einen abgerissenen Siebenundfünfzigjährigen. Als er das Haus betrat und durch den Flur ging, klebte ihm das Hemd bald feucht von Schweiß am Körper. Drinnen war die Luft muffig und stickig. Keuchend stieg er in den sechsten Stock. Obwohl er mit nichts Besonderem gerechnet hatte, überraschte es ihn, wie scheußlich das Haus war. Die Wände waren mit Flecken übersät, als wäre das ganze Gebäude krank und würde unter einem Ausschlag leiden. Er klopfte an die Tür von Apartment 63. Sie gab ein wenig nach.
    – Hallo?
    Keine Antwort. Er drückte die Tür weit auf.
    Die letzten Sonnenstrahlen fielen durch dreckige Gardinen und warfen verzerrte Schatten ins Zimmer. Ein schmaler Flur führte an einem schmalen Bad vorbei zu einem schmalen Schlafzimmer. Neben einem Einzelbett standen dort ein Klapptisch und ein Stuhl. Eine nackte Glühbirne hing unter der Decke. Das Bett war seit Monaten nicht frisch bezogen worden und glänzte fettig. Im Zimmer herrschte ein drückender Gestank. Osip zog den Stuhl vor und setzte sich. In der feuchtwarmen Luft schloss er die Augen und nickte ein.
    Als Osip vage spürte, dass noch jemand im Zimmer war, wachte er auf, setzte sich gerade hin und schloss den Mund. Neben der Tür stand ein Mann. Die Sonne war untergegangen, die Glühbirne spendete mattes Licht. Osip war nicht sicher, ob der Mann sie eingeschaltet oder ob sie die ganze Zeit gebrannt hatte. Dann schloss der Mann die Wohnungstür ab. In der Hand trug er eine

Weitere Kostenlose Bücher