Agent 6
vor ihm, als hätte er eine Krankheit, die ihr Leben infizieren könnte. Er war verrückt, ein Mann, der sich auf eine Bühne stellte und sich zur Zielscheibe machte – das war Selbstmord. Seine Tat war nicht edel. Was änderte er, wenn er die Wahrheit aussprach? Es war eine nutzlose, gefährliche Wahrheit. Er wandte sich zu dem Mann um, der mit ihm auf der Bühne stand, zu dem berühmten Jesse Austin. Was hatte sich Grigori erhofft? Vielleicht hatte er gehofft, ein Mann voller Träume über dieses Land würde die Wahrheit hören und sich vom Fürsprecher zum Kritiker wandeln – das wäre ein schwerer Schlag für das Regime, eine angemessene Rache für den Mord an Polina. Aber als er in Austins freundliche Augen blickte, erkannte er, dass auch dieser Mann die Wahrheit nicht wissen wollte.
Austin legte Grigori einen Arm um die Schulter und verkündete dem Publikum:
– Ich weiß nicht, ob er ein Fan ist oder ob er mir sagen will, ich soll mit dem Singen aufhören!
Die Leute lachten. Grigori sprach undeutlich, er war betrunken, aber erschöpft und geschlagen.
– Genosse Austin.
Grigori zog die Tagebuchseite hervor.
– Was bedeutet das für Sie?
Austin nahm das Blatt und sah sich die Zeichnung an. Dann wandte er sich an das Publikum.
– Unser Freund hat mir eine Zeichnung vom wichtigsten Symbol unserer Zeit gegeben. Sie zeigt die Freiheitsstatue in New York. In meinem Land verspricht diese Statue Dinge, die noch wahr werden sollen – eine Zukunft, in der jeder Mann und jede Frau frei sind, unabhängig von Herkunft und Rasse. Hier bei euch ist diese Freiheit bereits Wirklichkeit.
Grigori weinte, umgeben von Menschen und doch allein. Er wiederholte Austins Worte mit lauter Stimme, damit man ihn auch ganz hinten verstand:
– Hier ist Freiheit bereits Wirklichkeit.
*
Am Bühnenaufgang packte ein Agent Leos Arm und zischte ihm zu:
– Tu was!
– Was kann ich denn machen? Soll ich auf die Bühne gehen?
– Ja!
Leo schob sich langsam näher, doch Austin schüttelte den Kopf, um zu zeigen, dass er selbst die Situation retten wollte. Er stimmte ein anderes Lied an. Es sollte erst am Ende des Konzerts als Abschluss gesungen werden, aber Austin zog es vor, weil er merkte, dass er die Unterbrechung geschickt überspielen musste. Es war »Die Internationale« – die Hymne des Kommunismus:
Wacht auf, Verdammte dieser Erde,
die stehts man noch zum Hungern zwingt!
Viele Zuhörer standen sofort auf. Die anderen machten es ihnen nach, und bald stand die ganze Halle. Leo begriff, warum Austin ausgerechnet dieses Lied gewählt hatte, um die Störung zu überspielen: Die Zuhörer kannten den Text. Anfangs klang ihr Gesang zögerlich, allerdings nur, weil sie nicht wussten, ob sie mitsingen sollten. Als Austin sie ermunterte, wurden sie immer lauter, bis jeder Mann und jede Frau so inbrünstig sang, wie sie konnten, vielleicht aus Angst, ihre Loyalität zum Staat könnte nach ihrer Lautstärke bemessen werden, vielleicht aus Angst, sie würden enden wie Grigori, wenn sie nicht sangen, bis sie heiser waren: als fremdartige, bedauernswerte Gestalten. Leo sang ebenfalls, aber halbherzig, weil er sich auf seinen verlorenen Protegé konzentrierte. In den Augen des jungen Mannes standen Tränen, sie glitzerten im grellen Scheinwerferlicht. Auch er sang:
Was sinkt, wir stoßen es hinein!
Wir wollen neu die Welt erbauen,Sind nichts wir, lasst uns alles sein!
Austin beendete das Lied nach der ersten Strophe. Als die Rufe nach einer neuen Welt erstarben, brandete im ganzen Saal kräftiger Applaus auf. Mehrere Agenten betraten die Bühne, sie klatschten mit falschem Lächeln auf dem Gesicht, umringten Grigori und schlossen den Kreis langsam, um ihre mörderischen Absichten zu verschleiern. Grigori stand geistesabwesend da und winkte in die Ferne, winkte eingebildeten Freunden und sagte der neuen Welt Lebwohl.
Wieder spürte Leo eine Berührung am Arm. Es war Raisa. Sie war aufgestanden und hatte ihm die Hand auf den Arm gelegt. Es war das erste Mal, dass sie ihn berührte. Sie flüsterte:
– Bitte, Leo, helfen Sie diesem Mann.
Leo sah Angst in ihren Augen, sicher Angst um Grigori, aber auch um sich selbst. Sie fürchtete sich, und diese Furcht hatte sie zu ihm getrieben. Endlich wusste Leo, was er zu bieten hatte – Sicherheit und Schutz. Kaum ein großes Talent. Aber vielleicht wäre es in diesen gefährlichen Zeiten genug – genug, um ein Heim zu schaffen, um eine Ehefrau zufrieden zu machen, um einen
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