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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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damit nichts zu tun haben. Die Mädchen sehen dich endlich als Vater, nicht mehr als Geheimdienstmann.
    In ihrer Antwort lag berechnete Grausamkeit. Sie wollte ihn verletzen. Zum ersten Mal in diesem Gespräch meinte er sich verteidigen zu müssen. Ihre Bemerkung hatte ihn getroffen.
    – Ich habe gesehen, dass etwas unter der Matratze versteckt ist. Wäre da nicht jeder neugierig? Hätte nicht jeder Vater das Gleiche getan?
    – Aber du bist nicht wie jeder andere Vater.
    Sie hatte recht. Er würde nie ein normaler Ehemann sein, nie ein normaler Vater. Er würde sich vor der Vergangenheit genauso schützen müssen, wie er früher den Staat vor seinen Feinden geschützt hatte. In Raisas Blick lag Bedauern. Sie sagte:
    – Das habe ich nicht so gemeint.
    – Raisa, ich schwöre dir, ich habe das Tagebuch nur aufgeschlagen, weil ich mir wegen Elena Sorgen mache. Sie benimmt sich in letzter Zeit seltsam. Das muss dir doch aufgefallen sein.
    – Sie ist nervös wegen der Reise.
    – Da ist mehr. Irgendetwas stimmt nicht.
    Raisa schüttelte den Kopf.
    – Nicht das wieder.
    – Ich will nicht, dass ihr fahrt. Ich werde dieses Gefühl einfach nicht los. Diese Reise …
    Raisa unterbrach ihn:
    – Es lässt sich nicht mehr ändern. Es ist alles vorbereitet. Ich weiß, wie du zu der Reise stehst. Du warst von Anfang an dagegen, aber du konntest mir keinen guten Grund nennen, weshalb ich nicht fahren sollte. Es ist schade, dass du nicht mitkommst, ich hätte dich sehr gerne dabei. Auf jeden Fall wäre ich ruhiger, wenn du bei mir wärst. Aber es geht nun mal nicht. Ich hatte einen Antrag für dich als Begleitperson gestellt. Mehr kann ich nicht machen. Höchstens in letzter Minute grundlos absagen, und das wäre viel gefährlicher, als morgen loszufliegen. Zumindest glaube ich das.
    Raisa blickte auf das Tagebuch. Sie war auch in Versuchung geraten.
    – Und jetzt leg das Tagebuch bitte wieder weg.
    Leo umklammerte es fest, er wollte es nicht aus der Hand legen.
    – Der erste Eintrag macht mir Sorgen …
    – Leo.
    Raisa hatte nicht laut gesprochen. Das musste sie nicht.
    Er schob das Buch sorgsam wieder unter die Matratze, mit dem Rücken zu ihm, etwa eine halbe Armlänge von der Bettkante entfernt – genau so, wie er es gefunden hatte. Dann ging er in die Hocke, um zu sehen, ob die Matratze irgendwie verändert aussah. Als er fertig war, wich er zurück. Ihm war klar, dass Raisa ihn die ganze Zeit beobachtet hatte.

Am nächsten Tag
    Leo konnte nicht schlafen. In ein paar Stunden würde Raisa das Land verlassen. In normalen Zeiten hatten sie nie länger als einen Tag voneinander getrennt verbracht. Er hatte im Großen Vaterländischen Krieg gekämpft, war für seine Tapferkeit als Kriegsheld ausgezeichnet worden, und trotzdem beunruhigte ihn die Aussicht, allein zu sein. Er drehte sich auf die Seite und lauschte auf ihre Atemzüge. Er stellte sich vor, sie würde für sie beide atmen, und passte seinen Rhythmus ihrem an. Langsam streckte er die Hand aus und legte sie ihr behutsam auf die Seite. Sie reagierte auf seine Berührung, ohne aufzuwachen, nahm seine Hand und legte sie auf ihren Bauch, wie eine Kostbarkeit. Nachdem sie seine Hand sanft gedrückt hatte, fand ihr Atem seinen alten Rhythmus wieder. Höchstwahrscheinlich war er so unruhig, weil er sie nicht gehen lassen wollte. Er hatte mögliche Gefahren heraufbeschworen, sich Gründe einfallen lassen, warum sie zu Hause bleiben sollten, ihre Sicherheit infrage gestellt, und das alles möglicherweise nur aus egoistischen Gründen. Er verabschiedete sich von dem Gedanken, auch nur eine Stunde Schlaf zu finden, und stieg vorsichtig aus dem Bett.
    Im Dunkeln trat er gegen ihren Koffer. Er stand fertig gepackt vor dem Bett, als würde er die Abreise kaum erwarten können. Leo hatte den Koffer fünfzehn Jahre zuvor gekauft, als er noch Agent war und ihm exklusive Geschäfte offen standen. Der Koffer hatte zu seinen ersten Anschaffungen gehört, nachdem er erfahren hatte, dass er fortan häufig verreisen musste. Begeistert über diese Aussicht und aufgeblasen, weil er plötzlich so wichtig war, hatte er einen vollen Wochenlohn für das edle Stück ausgegeben und sich ausgemalt, wie er kreuz und quer durch das Land fahren und seinem Staat dienen würden, wann immer die Pflicht rief. Dieser stolze, ehrgeizige, junge Mann erschien Leo jetzt wie ein Fremder. Die wenigen Luxusgegenstände, die er während seiner Zeit beim Geheimdienst angesammelt hatte, besaß er

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