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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Menschen dazu zu bringen, ihn zu lieben. Er legte seine Hand auf ihre und sagte:
    – Ich werde es versuchen.

Fünfzehn
Jahre
später

Moskau
Nowyje Tscherjomuschki
Chruschtschow-Slums
Apartment 1312
24. Juli 1965
    Als Leo Demidow die Treppe hinaufstieg, klebte ihm das Hemd in feuchten, durchsichtigen Flecken an Rücken und Brust. Mit jedem Schritt quetschten seine Zehen Schweiß aus den Socken. Der Fahrstuhl steckte im Erdgeschoss fest, die Tür war halb geöffnet festgeklemmt, und das Licht darin flackerte wie das ermattende Herz eines sterbenden Tieres. Obwohl er dreizehn Etagen hinaufgehen musste, begegnete ihm niemand. Dass ein großes Wohnhaus mittags so still dalag, war irgendwie unheimlich. Auf den Fluren sah er weder spielende Kinder noch Mütter mit ihren Einkäufen, nirgends wurden Türen geknallt oder stritten sich Nachbarn – der lebhafte Alltag war lahmgelegt durch die Hitzewelle, die jetzt schon sechs Tage lang andauerte. In Mietskasernen dieser Bauart sog der Beton die Hitze so gierig auf, wie ein Geizhals Gold zusammenraffte. Auf dem obersten Treppenabsatz blieb Leo stehen und wartete, bis er zu Atem gekommen war, dann betrat er das Apartment 1312, ohne von einem Bewohner des dreizehnten Stocks gesehen zu werden.
    Während er sich in der beengten Wohnung umsah, zupfte er sich das Hemd vom Oberkörper, als würde er Blutegel absammeln. Er ging durch das Wohnzimmer in die Küche und hielt das Gesicht unter den Wasserhahn. Auf der Leitung war kaum Druck, und das Wasser floss zu seinem Leidwesen lauwarm heraus. Trotzdem war es eine Wohltat, und er blieb mit geschlossenen Augen unter dem Hahn und ließ sich das klägliche Rinnsal über Wangen, Lippen und Lider laufen. Dann drehte er den Hahn zu. Das Wasser tropfte ihm vom Gesicht und rann ihm den Hals hinunter. Er öffnete ein kleines Fenster, dessen Scharnier sich schwer bewegen ließ, obwohl das Gebäude erst wenige Jahre alt war. Draußen stand die Luft, es ging kein Windhauch, die Hitze glich einer Wand. Gegenüber schimmerte ein identisch gebautes Wohnhaus wie eine Luftspiegelung, Tausende Fenster waberten in senkrechten Reihen im Sonnenlicht.
    Die Wohnung war so wie alle anderen auch. Da sie nur ein kleines Schlafzimmer besaß, war ein Teil des Wohnzimmers notdürftig abgetrennt, um einen weiteren Schlafbereich zu schaffen. In vielen Wohnungen fanden sich solche provisorischen Wände. Ein Bettlaken über einer Wäscheleine, die zwischen zwei Wänden gespannt war, sollte für etwas Privatsphäre sorgen und zwei schmale Einzelbetten von der Küchenecke abschirmen. Leo ging zu dem abgetrennten Bereich. Neben jedem Bett stand eine fertig gepackte Tasche. Er hob sie prüfend hoch. Eine Tasche war deutlich schwerer als die andere. In den vielen Jahren, in denen er Hunderte von Wohnungen durchsucht hatte, hatte er seinen Blick für alles geschärft, was ungewöhnlich wirkte. Die Wohnung eines Menschen verriet seine Geheimnisse genauso wie ein Verdächtiger seine Schuld, nämlich durch winzige Details. Die Dicke der Staubschicht auf einer Oberfläche konnte ein Hinweis sein, genauso winzige Kratzer auf den Dielen oder ein einziger rußiger Fingerabdruck auf einem Schreibtisch. Leos Blick wurde von einem der Betten angezogen. Bei der brütenden Hitze lagen keine schweren Decken auf den Betten, nur dünne Laken, unter denen man die Matratzen erkennen konnte. Eine zeigte einen winzigen Huckel, kaum zu erkennen und eigentlich keinen zweiten Blick wert, es sei denn, man war von der Geheimpolizei ausgebildet worden.
    Geleitet von diesem Instinkt schob Leo eine Hand unter die Matratze. Seine Finger ertasteten den Rand eines Buches. Er zog es hervor und fand ein Notizbuch mit festem Einband. Der Deckel war blank, er zeigte weder einen Titel noch ein Bild. Dieses Notizbuch gehörte nicht zu den billigen Exemplaren, die viele Schüler benutzten und die schnell auseinanderfielen. Das Papier war teuer, der Rücken fadengeheftet. Leo drehte das Buch herum, um zu sehen, wie viele Seiten zerknickt waren. Das Tagebuch war zur Hälfte beschrieben und umfasste damit etwa zweihundert Seiten Text. Er hielt die Schnittkante nach unten und schüttelte es. Es fiel nichts heraus. Nach dieser äußerlichen Untersuchung schlug er die erste Seite auf. Die Handschrift war klein und deutlich, der Text säuberlich mit einem gründlich angespitzten Bleistift geschrieben. Ein paar blasse Flecken zeigten, wo Wörter ausradiert und überschrieben worden waren. In diesem Buch steckten

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