Agent 6
Sporttasche aus rissigem Leder. Er musterte das Zimmer und das schmierige Bettzeug. Der Abscheu auf seinem Gesicht zeigte deutlich, dass die Wohnung nicht ihm gehörte. Nachdem er die Tagesdecke über das Laken gezogen hatte, setzte er sich auf die Bettkante. Er war Ende dreißig, Anfang vierzig, und alles an ihm wirkte kräftig, seine Arme und Beine, die Brust, das Gesicht. Er hob die Tasche auf den Schoß, zog den Reißverschluss auf und holte etwas Kleines hervor, das er Osip zuwarf. Es war ein Briefchen Opium. Mit einer Bewegung, die er über viele Jahre perfektioniert hatte, ließ Osip das Briefchen in einer Innentasche seiner Jacke verschwinden, wo es durch ein kleines Loch ins Futter glitt. Viele Agenten waren süchtig, manche spielten, andere tranken. Osip rauchte an den meisten Abenden, bis er bewusstlos wurde, er lag dann auf dem Rücken und spürte das wunderbarste Gefühl der Welt – überhaupt nichts. Seine Sucht diente noch einem weiteren Zweck. Sie stimmte seine Vorgesetzten und die Agenten, die in der Sowjetunion seine Aktivitäten überprüften, weniger misstrauisch. Durch seine Sucht bekamen sie das Gefühl, sie könnten ihn kontrollieren. Sie hatten ihn in der Hand, er war auf sie angewiesen. Sein Deckname lautete Brauner Rauch. Er klang zwar ein wenig abfällig, aber Osip mochte ihn. Er hörte sich fast wie ein Indianername an, eine hübsche Ironie für einen eingewanderten Spion.
Es war unwahrscheinlich, dass dieser Mann verdeckt für das FBI arbeitete. Er hatte bisher kein Wort gesagt. Ein Undercover-Agent hätte schon hundert nervöse Lügen erzählt. Der Mann griff zum zweiten Mal in die Tasche. Osip beugte sich neugierig vor, um zu sehen, was er herausholen würde. Es war eine Kamera mit Teleobjektiv. Osip fragte:
– Soll die für mich sein?
Statt zu antworten legte der Mann die Kamera auf den Tisch. Osip sagte:
– Da ist wohl ein Fehler passiert. Ich bin nicht im operativen Dienst.
Die Stimme des Mannes klang rau und tief.
– Was sind Sie dann? Sie liefern uns keine nützlichen Informationen. Sie behaupten, Sie würden Spione anlernen, aber auch diese Spione bringen uns nichts.
Osip schüttelte in gespielter Entrüstung den Kopf.
– Ich habe mein Leben riskiert …
– Ein kalkulierbares Risiko bei einem Mann, der nichts zu verlieren hat. Sie sind Experte darin, so wenig wie möglich zu machen. Aber jetzt hat das Spiel ein Ende. Sie haben zigtausend Dollar bekommen, und wofür?
– Wir können gerne darüber reden, was ich noch für die Sowjetunion tun kann.
– Darüber wurde schon geredet. Wir haben entschieden, was Sie tun müssen.
– Dann würde ich raten, dass diese Aufgaben meinen Fähigkeiten entsprechen sollten.
Der Mann kratzte sich durch das Hemd hindurch an der Brust, dann blickte er auf seine Fingernägel, die auffallend lang und tadellos sauber waren:
– Bald wird etwas sehr Wichtiges geschehen. Damit alles glattgeht, müssen zwei Dinge getan werden. Sie haben die Kamera bekommen. Jetzt zeige ich Ihnen, was ich bekommen habe.
Der Mann legte eine Pistole auf den Tisch.
Amerikanischer Luftraum
New York City
Am selben Tag
Die Wolkendecke riss so sauber auf, als hätte eine Hand einen Theatervorhang zur Seite gezogen, um dem Publikum am Himmel New York City zu präsentieren. Der Hudson teilte sich wie eine Stimmgabel vor der schmalen Insel Manhattan, die mit ihren zahllosen akkuraten Wolkenkratzern wie ein geometrisches Gebilde aus lauter Geraden wirkte. Raisa hatte sich New York riesig vorgestellt, selbst vom Flugzeug aus, ein Koloss aus Stahl mit achtspurigen Straßen und Autos, die sich wie Ameisen meilenweit aneinanderreihten. Als sie Amerika zum ersten Mal sah, stockte ihr der Atem. Das war nicht nur ihr erster Blick auf Amerika, sondern auch ihr erster Flug in einem Düsenjet, die erste Stadt, die sie aus der Luft sah. Es fühlte sich beinahe an wie ein Traum, obwohl Raisa nie wirklich davon geträumt hatte, dort zu sein. Ihre bescheidenen Träume hatten immer innerhalb der Grenzen der U d SSR gespielt. Eine Reise nach Amerika war ihr nie in den Sinn gekommen. Natürlich machte sie sich ihre Gedanken über das Land, das von ihrer Regierung diffamiert und als ihr größter Feind hingestellt wurde, als eine Gesellschaft, die Korruption und moralischen Verfall verkörperte. Sie hatte diesen Behauptungen nie ganz geglaubt. Als Lehrerin hatte sie diese Darstellungen manchmal wiederholen müssen, voller Wut und Empörung in der Stimme, weil sie
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