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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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lassen, dass sie Amerika besuchen würde, und sie hätte auch nie gedacht, dass sie einmal eine eigene Familie haben würde. Als junges Mädchen, als Flüchtling während des Großen Vaterländischen Kriegs hatte sie sich in ihrer verzweifelten Lage einfach nur gewünscht zu überleben. Es glich immer noch einem Wunder, dass sie zwei Mädchen hatte adoptieren können, die sie bewunderte und liebte.
    Als der Jet aufsetzte, herrschte in der Kabine weiter angespannte Stille, als könnten die Passagiere noch nicht ganz glauben, dass sie es zurück auf den Boden geschafft hatten. Sie waren jetzt in Amerika. Der Pilot sagte:
    – Sehen Sie aus den Fenstern! Auf der rechten Seite!
    Sofort lösten alle ihre Sitzgurte, schoben sich vor die Fenster und spähten hinaus. Die Stewardess sagte Raisa, sie solle die Schüler wieder auf ihre Plätze schicken, aber Raisa ignorierte sie. Sie konnte selbst nicht widerstehen, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Draußen standen Tausende von Menschen, mit Ballons und Transparenten, auf denen auf Englisch und Russisch stand:
    Willkommen in Amerika!
    Raisa fragte:
    – Auf wen warten denn all die Leute hier?
    Die Stewardess antwortete:
    – Auf Sie.
    Das Flugzeug hielt an. Als sich die Türen öffneten, setzte eine Schülerblaskapelle an zu spielen, und die laute Musik erfüllte das Flugzeug. Stumm vor Staunen stellten sich alle im Gang auf, Raisa als Erste. Die Schülerkapelle am Fuß der Gangway bewies eher großen Elan als großes Können. Raisa wurde sanft die Stufen hinuntergedrängt und betrat als eine der Ersten das Rollfeld. An einer Seite standen Journalisten, vielleicht zwanzig Fotografen mit zuckenden Blitzlichtern. Raisa blieb stehen, weil sie nicht wusste, was man von ihr erwartete, wohin sie gehen oder was sie tun sollte. Man hatte ihnen gesagt, sie sollten ihre Taschen an Bord lassen, damit sie unbeschwert die Begrüßung genießen konnten. Ein Empfangskomitee hieß sie willkommen, man schüttelte ihnen lächelnd die Hand.
    Abseits der anderen entdeckte Raisa eine kleine Gruppe von Männern. Sie trugen Anzüge und hatten die Hände tief in den Taschen vergraben. Ihre Mienen wirkten feindselig. Ohne ein Abzeichen oder eine Waffe zu sehen, wusste Raisa, dass die Männer zur amerikanischen Geheimpolizei gehörten.
    *
    FBI -Agent Jim Yates sah zu, wie sich die sowjetische Delegation in drei ordentlichen Reihen aufstellte, die Kleinsten vorne, die Größten hinten. Er betrachtete die Musikkapelle, die Ballons, die Zuschauer, die Fotografen, die drauflosknipsten, als wären diese Kinder Filmstars. Nicht eines von ihnen lächelte, ihre Gesichter waren starr, die Münder zusammengekniffen. Wie Maschinen, dachte er, genau wie Maschinen.

Manhattan
Hotel Grand Metropolitan
44th Street
Am nächsten Tag
    Auf die Frage, ob ihr die Konzerte wichtig waren, hätte Soja mit den Schultern gezuckt und geantwortet, sie würde für ihre Mutter hoffen, dass sie gut liefen. Sie selbst kümmerten die Auftritte wenig, und sie glaubte auch nicht, dass sie viel bewirken konnten – die Vorstellung, ein Entgegenkommen auf internationaler Ebene ließe sich durch ein paar Lieder heraufbeschwören, war so naiv, dass es regelrecht lächerlich wirkte. Sie hielt sich in der Regel aus Politik und ideologischen Überlegungen heraus. Sie wollte Chirurgin werden. Ihr Gebiet waren der Körper, Fleisch, Knochen und Blut, nicht Ideen oder Theorien. Sie hatte einen Beruf gewählt, der möglichst wenig moralische Spielräume zuließ: Sie würde ihr Bestes geben, um den Kranken zu helfen. Die Konzerte betrachtete sie ganz pragmatisch. Sie wollte reisen, deshalb war sie hier. Sie wollte New York sehen und Amerikaner kennenlernen. Sie sprach ein wenig Englisch und war gespannt darauf, es anzuwenden. Und auf gar keinen Fall hätte sie ihre kleine Schwester Elena alleine reisen lassen. Sie musste auf sie aufpassen.
    Soja hockte auf der Bettkante, weniger als einen Meter vom Fernseher entfernt und ganz versunken in die amerikanischen Sendungen, die scheinbar rund um die Uhr liefen. Der Bildschirm steckte in einem Gehäuse aus glänzendem Nussbaum mit dem Lautsprecher auf der einen Seite und einer Reihe kleiner Knöpfe auf der anderen. Darauf lag eine kurze Bedienungsanleitung auf Russisch. Egal an welchem Regler sie drehte oder welchen Knopf sie drückte, überall schien das gleiche Programm zu laufen. Auf Zeichentrickfilme folge eine Sendung mit Musik, die Ed Sullivan Show . Darin kündigte ein Mann in einem Anzug,

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