Agent 6
befürchtete, ihre Schüler könnten sie denunzieren, wenn sie gemäßigter über Amerika sprach. Aber ob sie die Lügen glaubte oder nicht, beeinflusst hatten sie Raisa allemal. Diese Stadt und das ganze Land waren ein Konzept, kein realer Ort, eine Vorstellung, die der Kreml kontrollierte. Die sowjetischen Medien durften nur Fotos von Suppenküchen und Schlangen von Arbeitslosen veröffentlichen, neben Bildern von riesigen Villen und reichen Männern, deren Bäuche sich unter ihren maßgeschneiderten Anzügen wölbten. Nach Jahren voller Mythen erstreckte sich jetzt unter ihr die Stadt, entblößt wie ein Patient auf dem Operationstisch, und wartete ohne Kommentar oder Klassifizierung auf sie, ohne begleitende Propaganda.
Mit einem Mal befürchtete Raisa, es sei ein Fehler gewesen, ihre Töchter in diese fremde, neue Welt zu bringen. Sie betrachtete Elena, die jüngere, die neben ihr saß und durch ein kleines Fenster nach unten spähte, während der Düsenjet einen Kreis beschrieb.
– Was denkst du gerade?
Elena war so aufgeregt, dass sie die Frage nicht hörte. Raisa tippte ihr auf die Schulter und meinte:
– Die Stadt ist kleiner, als ich erwartet hatte.
Elena wandte sich um, das Einzige, was sie herausbrachte, war:
– Wir sind wirklich hier!
Dann starrte sie wieder hinunter auf die Stadt. Raisa stand auf und sah über ihre Rückenlehne nach ihrer älteren Tochter, die in der Reihe hinter ihr saß. Soja hockte auch dicht vor dem Fenster wie ein kleines Kind, und sog jedes Detail in sich auf. Raisa setzte sich beruhigt wieder hin, sie glaubte jetzt, dass es doch richtig gewesen war, ihre Töchter nach New York mitzunehmen – die Reise war für sie eine wunderbare Gelegenheit.
Der Pilot kündigte den Anflug an und erklärte, am Flughafen würden Vorbereitungen für ihre Landung getroffen, sicher für eine Art Feierlichkeit. Bei einer pompösen Abschiedszeremonie in Moskau hatte man ihnen gesagt, der Pilot habe 1959 schon Chruschtschow zu einem Staatsbesuch nach Amerika geflogen, und ihr Flugzeug sei das gleiche, das auch der Ministerpräsident benutzte, eines der wenigen Typen, die eine solche Strecke ohne Zwischentanken bewältigen konnten. Aus Sorge um das internationale Ansehen hatte der Kreml darauf bestanden, dass die Delegation in New York im fortschrittlichsten Jet der Welt landete.
Als die Tupolew Tu-114 über das Meer schwenkte und sich auf den Landeanflug auf den Flughafen John F. Kennedy vorbereitete, entdeckte Raisa eine kleinere Insel vor der Südspitze Manhattans. Sie drückte einen Finger gegen die Fensterscheibe und fragte Elena:
– Siehst du das?
Elena drückte sich immer noch die Nase am Fenster platt, damit ihr auf keinen Fall irgendein Wunder entging.
– Ja, ich sehe es. Was ist das?
Raisa drückte den Arm ihrer Tochter.
– Das ist die Freiheitsstatue.
Zum ersten Mal, seit die Wolken aufgerissen waren, drehte Elena sich um.
– Was ist das?
Mit ihren beinahe achtzehn Jahren wusste Elena so gut wie nichts über die Stadt, in der sie gleich landen würden. Raisa hatte zwar ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, indem sie verbotene Bücher und illegal importierte Zeitschriften gelesen hatte, aber ihren Töchtern hätte sie so etwas nie erlaubt. Ihr mütterlicher Beschützerinstinkt hatte das verhindert. Sie hatte ihre Töchter bewusst behütet und ihnen jegliches Wissen vorenthalten, das ihnen falsche Gedanken eingeben konnte. Als Erklärung sagte sie nur:
– Eine berühmte Sehenswürdigkeit.
Wenn Raisa die vielen russischen Schüler im Flugzeug betrachtete, denen die Aufregung ins Gesicht geschrieben stand, mischte sich unter ihre Angst unbestreitbar ein gewisser Stolz. Sie hatte intensiv an der Planung und Durchführung dieser Reise mitgearbeitet – und war nicht durch politische Beziehungen zu dieser Ehre gekommen. Ganz im Gegenteil hatte sie wegen der Vergangenheit ihres Mannes ernsthafte Bedenken überwinden müssen. Leo galt in der verwobenen politischen Landschaft Moskaus als Paria: Durch seine Weigerung, weiterhin für die Staatssicherheit zu arbeiten, hatte er seinen Ruf ruiniert. In den vergangenen zehn Jahren hatte er sich sehr bedeckt gehalten, während sie im Bildungssystem zu einer bekannten Größe aufgestiegen war. Seit ihrer Beförderung zur Schuldirektorin besprach sie regelmäßig mit dem Ministerium Themen wie die Alphabetisierungsrate. Ihre Schule hatte Fortschritte gemacht, die sie als Propaganda abgetan hätte, hätte sie nicht selbst
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