Agent 6
Edward Sullivan, Liveauftritte von Bands an, von denen sie noch nie gehört hatte. Danach kamen wieder Zeichentrickfilme mit sprechenden Hunden und Autos, die in Abgründe rasten und in Wolken aus goldenen und silbernen Sternen explodierten. Soja kannte auf Englisch nur wenige Sätze, aber das machte nichts. In den Zeichentrickfilmen wurde kaum gesprochen, und in der Ed Sullivan Show gab es Livemusik, und selbst wenn nicht, selbst wenn der Moderator redete und sie kein Wort verstand, fand sie es faszinierend. Das sah Amerika also? So zog sich Amerika an? Sie war von den Sendungen wie hypnotisiert. Morgens war sie früh aufgewacht, um sich noch mehr anzusehen. Einen Fernseher im Zimmer zu haben, und dazu in einem Zimmer mit einem eigenen Bad, war so unglaublich, dass es ihr wie eine Schande vorgekommen wäre, zu viel Zeit mit Schlaf zu vertun.
Der Trickfilm war beinahe zu Ende. Soja beugte sich erwartungsvoll vor. Noch besser als die Cartoons und die Musik war, was zwischen den Sendungen lief. Die kurzen Spots dauerten nicht länger als dreißig Sekunden. Manchmal sprachen darin Männer oder Frauen direkt in die Kamera. Sie redeten über Autos, Besteck, Werkzeug und technische Geräte. In diesem ging es um ein volles Restaurant, in dem lachenden Kindern breite Gläser voller Eis, Schokoladensauce und Obst serviert wurden. In einem zweiten wurden Bilder von Häusern gezeigt, unfassbar groß für eine einzelne Familie glichen sie eher Datschen als Wohnhäusern. Aber anders als Datschen, die man auf dem Land fand, standen hier viele von diesen großen Häusern nebeneinander, mit ordentlichen Vorgärten und spielenden Kindern. Und zu jedem Haus gehörte ein Auto. In einem Beitrag wurden Geräte vorgeführt, mit denen man Möhren, Kartoffeln und Lauch schneiden konnte, um daraus eine Suppe zu kochen. Es gab Gesichtscremes für Frauen. Es gab Anzüge für Männer. Es gab für jede Aufgabe ein Gerät, für jede Arbeit eine Maschine, und sie alle konnte man kaufen. Das war Propaganda, nur nicht für ein politisches Regime, sondern für Produkte. So etwas hatte sie noch nie gesehen.
Es klopfte. Soja drehte den Ton leiser, öffnete die Tür und stand Mikael Iwanow gegenüber. Er war der jüngste Begleiter der Gruppe, etwa dreißig Jahre alt und einer der Propagandaexperten, die der Delegation zugeteilt waren. Er sollte dafür sorgen, dass die Schüler nicht versehentlich den Staat blamierten und dass die Amerikaner nicht die Schüler übermäßig beeinflussten. Soja mochte ihn nicht. Er war gutaussehend, eitel, arrogant und humorlos – ein Parteigänger wie aus dem Buch. In den drei Monaten vor der Abreise hatte er sich an den Vorbereitungen beteiligt, den Schülern wöchentlich mehrere Stunden lang Vorträge über die gesellschaftlichen Probleme Amerikas gehalten und ihnen erklärt, warum der Kommunismus dem Kapitalismus überlegen war. Er hatte Listen mit Dingen verteilt, vor denen sie sich in Acht nehmen sollten. Diese laminierten Checklisten sollten sie in Amerika immer bei sich tragen. Darauf standen Dinge wie:
Der protzige Reichtum der wenigen.
Das Elend der vielen.
Soja zuckte jedes Mal ein wenig zusammen, wenn Mikael etwas sagte. Sie begriff das Prinzip, dass die Armen an den Rand gedrängt wurden, wo man sie nicht sah, und dass man sich leicht von den Symbolen des Wohlstands in der Mitte Manhattans beeindrucken lassen konnte. Trotzdem war sein unermüdliches Pochen auf die Parteirichtlinien nervtötend. Von allen, die an der Reise beteiligt waren, misstraute sie ihm am meisten.
Mikael marschierte an Soja vorbei zum Fernseher und schaltete ihn mit einer wütenden Handbewegung aus.
– Ich habe doch gesagt: kein Fernsehen. Das ist alles Propaganda. Und du saugst das einfach in dich auf. Sie behandeln dich wie ein dummes Kind, und genauso benimmst du dich.
Anfangs hatte Soja versucht, ihn so gut wie möglich zu ignorieren. Weil dieser Trick nicht funktionierte, fand sie es lustiger, ihn zu ärgern.
– Ich kann mir etwas ansehen, ohne gleich eine Gehirnwäsche zu bekommen.
– Hast du schon mal ferngesehen? Glaubst du etwa, sie hätten sich nicht genau überlegt, was sie euch zeigen? Was hier läuft, ist nicht das, was die amerikanischen Bürger sehen – es wurde nur für euch gemacht, genau wie die Sachen in der Zimmerbar.
In ihren Zimmern standen kleine Kühlschränke mit Coca Cola, Erdbeersahnebonbons und Schokoriegeln. Ein höflich auf Russisch übersetzter Zettel erklärte, der Inhalt koste nichts,
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