Agent 6
daran mitgearbeitet. Es hatte eine seltsame Verkehrung ihrer Umstände stattgefunden. Der früher mächtige Leo mit seinen guten Beziehungen war jetzt isoliert und konnte nicht weiter aufsteigen, während ihre Karriere sie dem Machtzentrum immer näher brachte. Trotzdem zeigte er nie Anzeichen von Eifersucht. Er war jetzt viel glücklicher als früher. Er liebte seine Familie, er lebte für sie. Er würde auch für sie sterben, daran hatte sie keinen Zweifel. Raisa war traurig, dass er dieses Erlebnis nicht mit ihnen teilen konnte. Sie wusste nicht, ob er New York hätte genießen können, wahrscheinlich hätte er die ganze Zeit angespannt nach einem Komplott oder einer Intrige Ausschau gehalten, aber auf jeden Fall hätte er es genossen, mit ihnen zusammen zu sein.
Bei der tiefen Feindseligkeit, die zwischen den beiden Ländern herrschte, hatten viele die Reise als naiv bezeichnet. Eine Delegation sowjetischer Schüler sollte in New York und Washington Konzerte geben und damit das Verhältnis der beiden Nationen zueinander verbessern. Die Vorstellung wirkte absurd. Es war in der letzten Zeit zu schweren diplomatischen Zwischenfällen gekommen: Die Kubakrise hatte die beiden Länder an den Rand eines Atomkriegs gebracht. Andere Vorfälle, wie etwa der Ausschluss der Sowjetunion von der Weltausstellung in New York, wirkten im Vergleich dazu zwar relativ harmlos, sie verschlechterten jedoch zusätzlich das Klima. Die Lage war enorm angespannt. Vor diesem Hintergrund hatte die Idee eines Schülerbesuchs bei den Regierungen auf beiden Seiten Interesse geweckt. Weil kein Land bei wichtigen militärischen Fragen nachgeben durfte, standen auf diplomatischer Ebene nur noch wenige Wege offen. So wirkten diese Konzerte vielleicht wie ein winziger Schritt, aber die Erlaubnis dazu gehörte zu den wenigen Zugeständnissen, zu denen beide Länder bereit waren.
Diplomaten beider Seiten hatten sich nach langen Diskussionen auf ein offizielles Motto der Reise geeinigt, die unter dem Namen Internationale Tournee: Schüler für den Frieden lief:
Ein Leben in Frieden für die Kinder der Welt.
Die russischen Schüler waren zwischen zwölf und dreiundzwanzig Jahren alt und stammten aus allen Regionen des Landes. Als genaues Gegenstück sollten ihnen amerikanische Schüler aus allen fünfzig Staaten an die Seite gestellt werden. Auf der Bühne sollten sich die beiden Nationen vermischen, nebeneinander und Hand in Hand sollten sie vor der Weltpresse und den obersten Diplomaten auftreten. Ein plumpes politisches Manöver, dessen Vorbereitungen gelegentlich zu einer Farce ausgeartet waren. Es hatte Diskussionen darüber gegeben, ob Statur und Größe der einzelnen Schüler aufeinander abgestimmt werden sollten, damit nicht eine Gruppe auf der Bühne präsenter wirkte. Trotz dieser absurden Auswüchse fand Raisa die Grundidee bewundernswert. Ursprünglich hatte man sie gebeten, eine Auswahl von Schülern zu nominieren, die das Land am besten vertreten konnten, und sie hatte sich begeistert an den Vorbereitungen beteiligt. Dann sollte sie überraschenderweise die Reise leiten. Ihr einziger Einwand lautete, dass sie nicht gerne ihre Töchter allein lassen wollte, also wurden Elena und Soja in die Gruppe aufgenommen. Soja konnte sich zwar nur schlecht vorstellen, ihr Land zu repräsentieren – sie hatte nichts für den Staat übrig und war so rebellisch gestimmt, dass sie sich manchmal kaum beherrschen konnte –, aber sie war klug genug, um zu erkennen, dass sie wahrscheinlich nie wieder die Gelegenheit zu einer solchen Reise bekommen würde. Außerdem war es undenkbar, das Angebot abzulehnen. Sie wollte Chirurgin in einem angesehenen Krankenhaus werden. Dafür musste sie eine vorbildliche Sowjetbürgerin abgeben. Sie hatte erlebt, welche Konsequenzen es für Leo hatte, als er nicht mehr für die Geheimpolizei arbeiten wollte. Im Gegensatz zu ihrer großen Schwester plagten Elena wegen der Reise keine Bedenken. Sie war absolut begeistert und hatte Raisa angefleht, nach New York zu fahren.
Das sanfte Ruckeln beim Landeanflug dämpfte vorübergehend die Begeisterung der Fluggäste. Einige Schüler und auch einzelne Lehrer schnappten hörbar nach Luft. Wenn man bedachte, wie wenig sie bisher gereist waren, hatten sie den Flug erstaunlich gelassen überstanden. Als sie durch die aufgerissene Wolkendecke hinabstiegen, ergriff Elena Raisas Hand. Wie sie es auch betrachtete, dieser Tag war etwas Besonderes. Raisa hätte sich nie träumen
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