Agent 6
erwiderte auf Russisch:
– Ist Yates ein amerikanischer Geheimpolizist? Ich habe ihn gesehen. Aber ich war sehr vorsichtig. Deshalb habe ich das Haus von hinten betreten.
Was Jesse übersetzte, beruhigte Anna nicht, sondern machte sie wütend.
– Ist dir klar, was du getan hast? Weißt du, wie gefährlich es ist hierherzukommen? Was wollt ihr denn noch von ihm? Was kann er euch noch geben? Sieh dich um! Was könnt ihr ihm noch nehmen?
Anna verlor selten die Beherrschung. Jesse stand auf und legte seiner Frau beide Hände auf die Arme. Das schien sie nur noch zorniger zu stimmen, sie ließ sich davon nicht zum Schweigen bringen. Vielmehr schob sie ihn weg, zeigte auf einen Stapel Schallplatten in einer Ecke und wandte sich an die junge Russin, als stünde sie für die gesamte sowjetische Regierung:
– Siehst du das? Das ist die einzige Möglichkeit, seine Platten zu verkaufen. Er lässt sie privat pressen, weil ihn keine Plattenfirma unter Vertrag nimmt. Er verkauft sie im Abonnement an Fans, die sich noch an ihn erinnern. Früher hat er Millionen verkauft. Wie viele verkaufst du jetzt, Jesse? Wie viele Abonnenten hast du? Sag es ihr!
Elena verstand mit ihren beschränkten Englischkenntnissen nur einen Teil von dem, was Anna sagte. Sie begriff, dass es um die Alben in der Zimmerecke ging. Laut Mikael hatte die KPUSA sofort Hilfsgelder angeboten, als das FBI begonnen hatte, Mr. Austins Karriere zu untergraben. Der hatte jedoch abgelehnt und blieb dabei, kein Geld von der sowjetischen Regierung anzunehmen – er hatte sich nie auch nur durch Geld oder irgendwelche Geschenke bestechen lassen. Mr. Austin hockte sich vor den Plattenstapel, mit dem Rücken zu Anna und Elena. Dann sagte er auf Russisch:
– Fünfhundert. Mehr sind nicht übrig. Ich habe fünfhundert Abonnenten. Fünfhundert Fans …
Elena wusste, dass von den privaten Abonnenten, die seine selbst aufgelegten Alben kaufen, vierhundert zur KPUSA gehörten. Nur so hatten sie Austin ohne sein Wissen unterstützen können. Mit der nächsten Antwort wich Elena von dem sorgfältig vorbereiteten Drehbuch ab.
– Darf ich Sie etwas fragen? Man hat mir nicht gesagt, dass ich das fragen soll. Es ist etwas, das ich selbst gern wissen würde. Eine persönliche Frage.
– Bitte, frag, was immer du willst.
Nachdem Elena einen Blick von Anna aufgefangen hatte, wechselte sie zu gebrochenem Englisch.
– Warum unterstützen Sie die Sowjetunion? Warum geben Sie so viel?
Die Frage traf Mr. Austin und seine Frau wie ein Schlag. Sie sahen sich an, und ihre Unstimmigkeiten schienen plötzlich zu verpuffen. Sie antworteten nicht. Einen Moment lang schienen sie sogar zu vergessen, dass Elena im Zimmer war.
Elena sah auf die Uhr – es ging auf Mittag zu. Sie musste zurück ins Hotel.
– Bitte, Mr. Austin, ich habe nicht viel Zeit. Ich muss wieder Russisch sprechen.
Dann wechselte sie zurück in ihre Muttersprache.
– Sie wissen ja, dass wir heute Abend ein Konzert im UN -Gebäude geben. Presse aus der ganzen Welt wird dort sein. Die wichtigsten Diplomaten werden dort sein. Wir wollen, dass Sie auch dort sind. Wir haben versucht, für Sie und Ihre Frau offiziell Karten zu besorgen, aber die Veranstalter haben uns abgewiesen. Deshalb bin ich hier, um Sie zu bitten, draußen zu warten, auf der Straße, und eine Rede zu halten, wenn Sie sich das zutrauen. Zeigen Sie den Leuten, dass man Sie nicht zum Schweigen gebracht hat. Nach dem Konzert werden einige sowjetische Schüler durch den Haupteingang herauskommen. Wir kommen zu Ihnen, jubeln und applaudieren. Dieser Moment wird das Foto liefern, das die Bedeutung der ganzen Reise unterstreicht. Es wird jeden Amerikaner daran erinnern, welches Unrecht man Ihnen angetan hat. Bitte, Mr. Austin, sagen Sie mir, dass Sie kommen. So können wir etwas für Sie tun.
Ihre leidenschaftliche Bitte riss Elena dazu hin, ihm eine Hand auf den Arm zu legen.
Am selben Tag
Osip Feinstein hockte auf dem Dach eines Hauses gegenüber von Jesse Austins Wohnung. Wäre das russische Mädchen nicht aufgetaucht, hätte er die Aufgabe übernehmen sollen, Austin zu überreden. Und er bezweifelte sehr, dass es ihm gelungen wäre. Mit seiner Kamera hatte er verfolgt, was sich in der Wohnung tat, und die beiden zusammen fotografiert: die junge Russin und den Sänger Jesse Austin, der in einem Penthouse mit Blick auf den Central Park wohnen könnte statt in diesem Dreckloch. Er hing an einer viel giftigeren und stärkeren Droge als
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