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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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kam ihm nicht so vor, als hätte er es sich selbst beigebracht, sondern eher wie eine Muttersprache.
    – Ich dachte, ihr könnt mich vielleicht nicht mehr gebrauchen.
    Er hatte nicht selbstmitleidig klingen wollen. Die junge Russin schüttelte den Kopf.
    – Vor zwei Jahren erst gab es ein Projekt an den Schulen. Tausende Schüler haben Briefe geschrieben, um Sie zu unterstützen. Ich habe selbst drei Seiten geschrieben. Es wurde alles an Sie geschickt. Einige Briefe müssen doch durchgekommen sein.
    – Nein, kein einziger.
    – Das hatten wir befürchtet. Die Briefe wurden abgefangen. Die amerikanische Geheimpolizei öffnet Ihre Post.
    Jesse hatte schon lange vermutet, dass Post an ihn abgefangen wurde, aber dass es in einem solchen Umfang geschah, hatte er nicht geahnt. Er stellte sich die jungen FBI -Agenten vor, die Hunderte Briefe von Kindern lasen, jeden einzelnen analysierten und durch hochentwickelte Dechiffriermaschinen jagten. Elena sprach weiter.
    – Wir haben auch Mitglieder der Kommunistischen Partei Amerikas gebeten, mit Ihnen zu reden, aber sie konnten Sie nicht überzeugen, das Konzert zu besuchen.
    Jesse wurde ungehalten, als sie die KPUSA erwähnte.
    – Amerikanische Kommunisten vertrödeln ihre Zeit damit, sich in den Haaren zu liegen. Sie haben noch nie etwas Nennenswertes erreicht. Wieso sollte ich für sie einen Finger rühren?
    – Wir hätten auch versucht, Sie anzurufen …
    Die junge Russin errötete; sie hatte nicht auf den dürftigen Lebensstandard der Austins anspielen wollen. Jesse und Anna besaßen kein Telefon mehr. Das Mädchen sprach weiter.
    – Deshalb musste ich persönlich herkommen. Aber das ist nicht der einzige Grund. Auch wenn Sie heute Abend nicht zu dem Konzert kommen, will ich Ihnen sagen, dass man Sie in Russland nicht vergessen hat, man hat Sie nicht ausgeschlossen wie in Amerika. Ich bin siebzehn Jahre alt, und Sie sind für mich ein Held. Sie sind für viele Russen in jedem Alter ein Held. Ihre Musik läuft im Radio. Sie sind heute sogar noch beliebter als früher. Deshalb wollte ich heute herkommen, Mr. Austin. Wir haben gehört, dass Ihre Feinde Ihnen so viele Lügen erzählen. Wir wollen Ihnen die Wahrheit sagen. Sie werden bewundert und geliebt! Wir werden Sie nie vergessen, und wir werden nie aufhören, Ihre Musik zu spielen.
    Jesse fühlte sich, als wäre er aus einem Eisblock aufgetaut, warme Freude durchströmte ihn. In einem anderen Land wurden seine Lieder noch geschätzt, auch wenn man sie aus dem amerikanischen Gedächtnis gestrichen hatte. In seinem eigenen Land hörte man ihn zwar nicht mehr, aber im Ausland wurden seine Stücke noch gespielt. Überwältigt ging er zum Küchentisch, er musste sich setzen. Anna ging zu ihm und nahm seine Hand.
    – Was ist los? Was hat sie gesagt?
    – Meine Musik wird immer noch gespielt.
    Er hatte sich wirklich im Stich gelassen gefühlt von dem Land und der Partei, für die er so viel geopfert hatte. Jetzt zu hören, dass man ihn nicht vergessen hatte, linderte die vielen Qualen der vergangenen Jahre gewaltig.
    Er wandte sich wieder dem jungen Mädchen zu und fragte:
    – Wer hat dich geschickt?
    Elena antwortete auf Russisch:
    – Meine Anweisungen kommen aus der höchsten Regierungsebene Russlands. Wenn unser Treffen Ihnen nur zeigt, wie sehr Sie geschätzt werden, genügt es schon. Aber wir würden sehr gern mehr mit Ihnen zusammen machen. Wir haben gehört, dass Sie auf der Bühne und in Konzertsälen keine Reden halten können, weil man Sie nicht mehr engagiert. Anfangs haben Sie an Straßenecken Reden gehalten, Sie haben sich nicht unterkriegen lassen, haben improvisierte Auftrittsorte genutzt und auf Parkplätzen gesprochen. Aber jetzt haben wir gehört, dass Sie nirgendwo mehr reden.
    Jesse ließ den Kopf hängen. Anfangs hatte er sich gegen die Schikane des FBI gewehrt, indem er mit seiner Botschaft auf die Straße ging. Er hatte sich auf Obstkisten oder Motorhauben von Autos gestellt und zu jedem gesprochen, der zuhörte. Doch das war vorbei. Seit über zwei Jahren hatte er keine Rede mehr gehalten. Nicht nur, weil er oft von Streifenpolizisten unterbrochen und wegen Ruhestörung angeklagt wurde. Die Passanten waren oft gleichgültig, manche hatten ihn sogar beschimpft. Er antwortete seufzend auf Englisch:
    – Das ist etwas für junge Männer.
    Anna drückte ihm die Hand. Ihre Stimme klang besorgt.
    – Hat Yates sie hereinkommen sehen? Frag sie, Jesse.
    Er wiederholte Annas Frage. Elena

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