Agent 6
hatte er nicht abgestritten; er hatte ihnen die Tür gewiesen und gesagt, sie sollten einen besiegten Mann nicht mehr belästigen.
Dieses ernsthafte Mädchen mit den großen Augen, mit einem Zuckerguss aus Unschuld und Idealismus, war sicher ihr letzter Versuch, ihn zu überzeugen. Sie war als Botschafterin eine viel klügere Wahl. Dieses Mädchen steckte nicht voller Theorie und Zitate, sondern voll Hoffnungen und Träume, sie glaubte an etwas. Ihre Wahl fußte auf sorgfältiger Berechnung, und sie hatte nichts mit Sex zu tun. Ihr Mann wäre nicht an dem Mädchen interessiert. Dass Jesse bei jeder sich bietenden Gelegenheit fremdging, war ohnehin nur eine scheußliche Erfindung des FBI . In beinahe vierzig Ehejahren hatte Jesse sie nie betrogen, und es hatte zahllose Möglichkeiten gegeben. Er war ein gutaussehender Mann mit einer Stimme, die Frauen vor Bewunderung weinen ließ. Bei seinen frühen Tourneen hatten die Fans vor seiner Garderobe Schlange gestanden. Diese Frauen hätten sich beim ersten anzüglichen Blick von ihm jeden Faden vom Leib gerissen. Viele sagten, sie sei dumm und er ein hervorragender Lügner mit honigsüßer Zunge und der Stimme einer Sirene, mit der er sie glauben machen konnte, was er wollte. Anna wusste es besser. Sein Problem war Treue, nicht Untreue. Er war übertrieben loyal – er stand zum Kommunismus wie zu einer Geliebten, obwohl sie ihm die Lebensgrundlage genommen hatte.
Anna hatte Jesse nie die Probleme vorgeworfen, die seine Ansichten ihnen eingebrockt hatten. Ihre Freunde hatten sie angefleht, sie sollte ihn dazu bringen, den Mund zu halten, seine Behauptungen zu widerrufen und sich zu entschuldigen, auch wenn er es nicht so meinte, damit sie nicht mehr unter solchen Druck gesetzt wurden. Sie hatte sich geweigert, darüber auch nur nachzudenken. Er war leidenschaftlich und geradeheraus – Eigenschaften des Mannes, in den sie sich verliebt hatte. In seiner Musik setzte sich fort, was er glaubte – das konnte man nicht trennen, man konnte seine Persönlichkeit nicht aufspalten oder verfälschen. Man konnte ihn nicht gefälliger machen oder weniger provokant. Sosehr sie an dieser Sichtweise festhielt, auch heute noch, hatte es ehrlich gesagt Zeiten gegeben, in denen Verbitterung wie Flutwellen durch ihre Adern gebrandet war. Sie hatte als seine Managerin seine Karriere mitgestaltet, und all die Arbeit, alles, was sie erreicht hatten, war wie Spuren im Sand davongespült worden. Wenn sie daran dachte, was sie geschaffen und was sie verloren hatten, verließ sie manchmal alle Kraft, ihr Wille zerbrach, und sie stellte sich ihr Leben ohne den Kommunismus vor. In diesen Momenten hasste sie schon den Klang dieses Wortes, verabscheute jede Silbe, aber die Liebe zu Jesse war so stark wie immer.
Anna bemerkte, wie leichtfüßig ihr Mann ihrer jungen Besucherin Platz machte und die Tür hinter ihr schloss. Seine Mutlosigkeit nach dem Gespräch mit Yates verflog wie Morgennebel unter der Sonne eines neuen Tages. Das Mädchen war nervös und arg bemüht, das unter Kontrolle zu halten, was sie nur noch überzeugender machte. Sie sprach Englisch und stolperte über die Wörter.
– Ich heiße Elena. Ich bin eine Schülerin aus der Sowjetunion, auf der Reise durch Amerika. Wir geben Konzerte in New York und Washington. Heute Abend treten wir vor den Vereinten Nationen auf.
Agent Yates war zwar widerwärtig, aber nicht dumm. Er hatte recht behalten – die Sowjets hatten nicht aufgegeben. Sie hatten noch einmal Kontakt aufgenommen. Von der KPUSA war Jesse von Anfang an enttäuscht gewesen, aber den Sowjets hatte er noch nie etwas abschlagen können. Die junge Russin schien nicht zu wissen, wen von beiden sie ansprechen sollte, vielleicht hatte sie nicht erwartet, dass Anna zu Hause sein würde.
– Mr. Austin und Mrs. Austin, ich bin freiwillig hier, um eine Nachricht zu überbringen. Ich spreche nicht gut Englisch. Mir wurde gesagt, dass Sie Russisch sprechen, Mr. Austin. Darf ich Russisch sprechen? Es tut mir leid, Mrs. Austin. Bitte verzeihen Sie. Wenn wir Russisch sprechen, mache ich keine Fehler.
Jesse warf Anna einen Blick zu. Er sagte:
– Ich übersetze für dich.
Anna nickte, und die junge Frau wechselte zu Russisch über. Das Gesicht ihres Mannes hellte sich auf, als er diese Sprache hörte – eine Sprache, die Anna nie verstanden hatte.
*
Die Sprache brandete in Wellen zu Jesse zurück. Er war erstaunt, wie flüssig er nach so vielen Jahren Russisch sprach. Es
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