Agent 6
hergekommen?
Elena schüttelte den Kopf und holte ihre Kleidung aus dem Spind. Als sie sich umziehen wollte, hielt Raisa sie zurück.
– Du kannst in deinem Zimmer duschen und dich umziehen. Beeil dich, wir sind spät dran.
Elena ärgerte sich darüber, dass Raisa mit ihr sprach wie mit einem Kind, und verlor rasch jedes schlechte Gewissen wegen ihres heimlichen Abenteuers.
Als sie den Flur betraten, standen sie plötzlich vor dem amerikanischen Geheimpolizisten – dem Mann aus Harlem. Seine Augen waren blutunterlaufen, von den schwarzen Pupillen aus verzweigten sich rote Äderchen wie Baumwurzeln, sein Hemd zeigte Schweißflecken. Elena versuchte, ruhig zu bleiben, während Raisa auf Englisch fragte:
– Kann ich Ihnen helfen?
Yates blickte auf Elena hinab, Raisa ignorierte er. Er streckte die Hand aus, legte Elena einen Finger an die Wange und fing eine Schweißperle auf. Er hielt sie sich dicht vor das Auge, als wäre sie ein Beweis.
– Ich bin Agent Yates vom FBI . Ich werde Sie beide von jetzt an sehr genau im Auge behalten.
Raisas Blick wanderte zu Elena und zurück zu Yates. Der Agent machte ihnen Platz.
*
Im Fahrstuhl schwieg Raisa. Als Elena etwas sagen wollte, bedeutete sie ihr mit einer wütenden Geste, still zu sein. Im neunzehnten Stock gingen sie rasch zu Sojas Zimmer. Erst nachdem Raisa die Tür abgeschlossen hatte, sagte sie:
– Du musst mir jetzt sagen, ob hier etwas vor sich geht. Und keine Lügen.
Raisa packte Elenas Arm. Elena erschrak.
– Du tust mir weh!
– Was ist hier los!
Soja kam zu ihnen.
– Was ist passiert?
Raisa hielt den Blick auf Elena gerichtet.
– Elena, sag mir jetzt sofort, worin du verwickelt bist.
Elena wurde unter ihrem starren Blick unbehaglich zumute, sie sah zum Fernseher hinüber. Auf dem Bildschirm fuhr gerade ein knallbuntes Zeichentrickauto über eine Klippe und explodierte in einem Regen aus blauen, grünen und rosafarbenen Sternchen. Ihre Antwort war nur ein Flüstern.
– In gar nichts.
Raisa ließ ihre Tochter los, selbst entgeistert über das, was sie sagte.
– Das glaube ich dir nicht.
Moskau
Nowyje Tscherjomuschki
Chruschtschow-Slums
Apartment 1312
Am selben Tag
Leo erwartete nicht, während der Reise etwas von seiner Familie zu hören. Genauso ging es jeder Familie, die sich von einem Sohn oder einer Tochter verabschiedet hatte. Man hatte ihnen gesagt, es sei zu schwierig, ein Telefonat zu führen, und man würde das nur bei einem Notfall tun. Zwei Tage waren vergangen, seit Leo am Flughafen zwischen den Überresten der Abschiedsfeier gestanden und zugesehen hatte, wie das Flugzeug Richtung New York abhob. Während alle anderen die Aussichtsplattform verließen, als der Jet in der Ferne verschwand, blieb Leo noch lange dort stehen. Seine Familie würde acht Tage fort sein. Leo kam diese Zeit wie eine Ewigkeit vor.
Die Hitzewelle machte keine Anstalten abzuklingen. Kurz vor Mitternacht saß Leo in Unterhemd und Shorts an seinem Küchentisch, vor sich ein Glas lauwarmes Wasser und die ausgebreiteten Spielkarten. Sein Leben hatte innegehalten, bis seine Familie zurückkehrte. Die Karten lenkten ihn ab, sie betäubten sanft seine Ungeduld. Er konzentrierte sich auf das laufende Spiel, bis er einen meditativen Zustand ohne Gedanken erreichte. Die Nächte waren schwieriger als die Tage. Bei der Arbeit konnte er sich beschäftigen, er fegte sogar die Fabrikhalle, wahrscheinlich als einziger Werksleiter der Geschichte, um körperlich so müde zu werden, dass er nachts vielleicht schlafen konnte. Zu Hause war seine Strategie, Karten zu spielen, bis ihm die Augen zufielen und er beinahe einschlief. In der vergangenen Nacht hatte er am Tisch geschlafen, weil er befürchtet hatte, der Weg ins Schlafzimmer würde ihn wieder wachmachen. Heute wartete er auf den gleichen Moment, auf diesen Punkt, an dem seine Lider schwer wurden und er den Kopf auf den Tisch legen konnte, das Gesicht auf die aufgedeckten Karten gedrückt und froh darüber, dass ein weiterer Tag vergangen war.
Als er gerade eine Karte ablegen wollte, erstarrte er, die Pik zwei zwischen den Fingern. Er hörte Schritte auf dem Gang. Es war beinahe Mitternacht, um diese Zeit kam normalerweise niemand nach Hause. Er wartete und lauschte auf die Schritte. Sie hielten vor seiner Wohnung an. Leo ließ die Karten fallen und lief zur Tür, noch bevor geklopft wurde. Draußen stand ein Agent in einer KGB -Uniform, ein junger Mann – ihm tropfte Schweiß von der Stirn, nachdem
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