Agent 6
Vorlage gegeben, sich noch einmal bei ihm zu melden. Seiner nächsten Frage hörte sie an, dass er beunruhigt war.
– Wie ist die Reise?
Raisa musste ausweichend antworten, sie konnte die Punkte, die ihr Sorgen machten, nicht weiter ausführen.
– Heute habe ich mich mit Funktionären bei den Vereinten Nationen getroffen, wo das erste Konzert stattfindet, und sie hatten keine weiteren Fragen zum Ablauf. Sie waren ja bereits im Vorfeld in die Planungen einbezogen. Heute haben sie alles ohne Kommentar abgesegnet.
Wieder folgte eine Pause. Während Raisa wartete, fragte sie sich, wie er die Lage deuten würde. Schließlich sagte er:
– Kein Kommentar?
Ihm ging es wie ihr. Es sah sowjetischen Funktionären nicht ähnlich, irgendwelchen Plänen nicht ihren Stempel aufzudrücken und sich nicht einzumischen.
– Kein einziger.
– Du bist sicher … erfreut?
– Eher überrascht.
Raisa wusste nicht, wie viel Zeit ihr blieb. Sie musste den zweiten Punkt ansprechen, der ihr Sorgen machte.
– Leo, die Mädchen sind nervös. Besonders Elena.
– Elena?
– Sie benimmt sich seltsam. Sie ist oft allein.
– Hast du mit ihr gesprochen?
– Sie sagt, es wäre alles in Ordnung.
Ein Knacken im Hörer erinnerte Raisa daran, wie anfällig die Verbindung war, sie konnte jeden Moment unterbrochen werden. In plötzlicher Panik platzte es aus ihr heraus:
– Leo, ich glaube ihr nicht. Was soll ich tun?
Die Pause war so lang, dass sie sicher war, der Anruf wäre beendet worden. Sie fragte:
– Leo? Leo!
Leo antwortete mit entschiedener Stimme:
– Lass sie nicht zu dem Konzert gehen, Raisa, hörst du? Lass sie nicht …
Sie hörte ein Klicken. Es knackte im Telefon. Die Verbindung war abgebrochen.
Moskau
Lubjanka-Platz
Lubjanka, Hauptquartier
der Geheimpolizei
Am selben Tag
Leo wiederholte ihren Namen, jedes Mal ein wenig lauter . Das Telefon blieb stumm. Die Leitung war tot.
Die Bürotür öffnete sich. Während des Gesprächs hatte man ihn allein gelassen, eine absurde Illusion von Privatsphäre und ein zutiefst zynischer Trick in der Hoffnung, er würde unvorsichtig werden. Es war schlicht lächerlich, sich vorzustellen, sein Gespräch wäre nicht aufgenommen worden. Eine Frau betrat das Büro und sagte:
– Es tut mir leid, Leo Demidow. Die Verbindung wurde unterbrochen.
Anscheinend war die Frau eine Sekretärin, sie trug keine Uniform. Er fragte:
– Können wir meine Frau noch einmal anrufen?
Sie presste die Lippen zu einer schwachen Nachahmung eines mitfühlenden Lächelns zusammen.
– Vielleicht können Sie morgen mit ihr reden.
– Warum können Sie mich nicht jetzt durchstellen?
– Morgen.
Ihr herablassender Ton, in dem deutlich mitschwang, sie würde sich vernünftig verhalten und er nicht, machte Leo wütend.
– Warum nicht jetzt?
– Es tut mir leid, das ist nicht möglich.
Es klang platt und unaufrichtig. Leo umklammerte noch immer den Hörer, er streckte ihn der Frau entgegen, als würde er hoffen, sie könnte ihn zu neuem Leben erwecken.
– Ich muss mit meiner Frau sprechen.
– Sie ist auf dem Weg zur Kostümprobe. Sie können morgen mit ihr reden.
Die Lüge verstärkte Leos Unbehagen. Wenn sie die Befugnis besaß zu lügen, musste sie eine Agentin sein. Er schüttelte den Kopf.
– Sie ist nirgendwohin unterwegs. Sie tut genau das Gleiche wie ich, in New York, sie hält den Hörer in der Hand und bittet darum, wieder mit mir zu reden.
– Wenn Sie eine Nachricht für sie hierlassen wollen, versuche ich dafür zu sorgen, dass Ihre Frau sie heute Abend erhält.
– Bitte verbinden Sie uns wieder, jetzt.
Die Agentin schüttelte den Kopf.
– Es tut mir leid.
Leo weigerte sich, den Hörer loszulassen.
– Ich möchte hier mit jemandem sprechen.
– Mit wem denn?
– Mit demjenigen, der die Verantwortung trägt.
– Die Verantwortung wofür?
– Für das, was in New York vor sich geht!
– Ihre Frau trägt die Verantwortung für die Reise nach New York. Und jetzt gerade ist sie auf dem Weg zur Kostümprobe. Sie können morgen mit ihr reden und hören, wie es gelaufen ist.
Leo stellte sich die Agenten in den angrenzenden Büros vor. Agenten, die sein Telefonat belauscht hatten und jetzt diesem Gespräch zuhörten. Er stellte sich vor, was sie gerade besprachen. Einen wichtigen Punkt hatten sie geklärt: Er wusste nicht, was in New York vor sich ging, und seine Frau ebenso wenig. Man würde ihm auf keinen Fall erlauben, mit Raisa zu
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