Agent 6
er die dreizehn Stockwerke heraufgestiegen war. Leo sprach zuerst.
– Was ist passiert?
– Leo Demidow?
– Ja. Was ist passiert?
– Kommen Sie mit.
– Worum geht es denn?
– Sie müssen mitkommen.
– Geht es um meine Familie?
– Mein Befehl lautet, Sie abzuholen. Es tut mir leid, mehr weiß ich nicht.
Leo musste seine ganze Selbstbeherrschung aufwenden, um den Agenten nicht bei den Schultern zu packen und die Antwort aus ihm herauszuschütteln. Aber wahrscheinlich wusste er wirklich nichts. Leo fasste sich, kehrte in die Wohnung zurück, lief zu Elenas Bett und schob eine Hand unter die Matratze. Das Tagebuch war verschwunden.
Im Auto legte Leo die Hände auf die Knie und ließ sich stumm in die Stadtmitte fahren. Er malte sich die wildesten Dinge aus, die passiert sein konnten. Auf die Strecke achtete er nicht, er unterbrach seine ängstlichen Überlegungen erst, als der Wagen anhielt. Sie standen vor seinem früheren Arbeitsplatz, der Lubjanka – dem Hauptsitz des KGB .
Manhattan
Hotel Grand Metropolitan
44th Street
Am selben Tag
Während die Schüler im Hotel zu Mittag aßen, bat Raisa darum, ihren Mann in Moskau anrufen zu dürfen. Sie sagte, das sei ihre einzige Möglichkeit, vor der Kostümprobe mit ihm zu sprechen. Das Talent, überzeugend zu lügen, hatte sie sich als junge Frau antrainiert, um die Jahre von Stalins Terrorherrschaft zu überleben. Damals befürchtete sie schon bei jedem Annäherungsversuch von irgendeinem Mann, den sie abwehrte, man würde ihr antisowjetisches Verhalten vorwerfen. In diesem Fall nun hatte sie schlicht behauptet, Leos ältlicher Vater sei krank, und sie würde hören wollen, ob sich sein Zustand verschlechtert habe. Die amerikanischen Behörden machten keine Probleme, man bereitete sehr gern alles vor. Stattdessen übten ihre Kollegen Druck aus, allen voran Mikael Iwanow, der nicht wollte, dass jemand aus der Gruppe zu Hause anrief. Raisa wies seine Einwände zurück: Sie war die Leiterin ihrer Delegation, keine Schülerin mit Heimweh, und ein Anruf bei ihrem Mann war kaum etwas, um das er sich kümmern musste, vor allem nicht, wenn die Amerikaner keine Einwände hatten. Natürlich glaubte Raisa keinen Moment lang, sie könnte ungestört telefonieren. Die Amerikaner und die Sowjets würden jedes Wort mithören, sie würde nicht offen mit ihrem Mann reden können. Ihr Vorteil war, dass Leo bereits durch den bloßen Anruf wissen würde, dass etwas nicht stimmte. Sie hoffte, sie könnte ihm durch vorsichtige Formulierungen so viel über die Ereignisse mitteilen, dass er ihr eine Einschätzung geben konnte. Er würde sehr schnell wissen, ob wirklich etwas nicht stimmte oder ob sie sich unnötig Sorgen machte.
Sie hockte in ihrem Hotelzimmer auf der Bettkante, wartete und starrte auf das Telefon auf dem Nachttisch. Wenn die Behörden in Moskau die Bitte gewährten, würde man Leo von ihrer Wohnung zu einem Telefon bringen. Dann würde man das Auslandsgespräch durchstellen. Raisa schätzte, dass sowohl Sowjets als auch Amerikaner gespannt abwarteten, was sie zu sagen hatte. Wenn sie eine Bemerkung machte, die den Sowjets nicht passte, würde das Gespräch unterbrochen werden.
Beinahe eine Stunde war vergangen, die Schüler würden bald ihre Mahlzeit beendet haben – dann fing die Kostümprobe an. Die Zeit lief davon. Raisa stand auf, ging auf und ab und bezweifelte schon, dass der Anruf zustande kommen würde. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie noch nie mit Leo telefoniert hatte.
Das Telefon klingelte. Sie sprang hin. Ein Stimme sagte auf Russisch:
– Wir haben Ihren Mann hier. Möchten Sie den Anruf jetzt entgegennehmen?
– Ja.
Es folgte eine Pause, ein Klicken, dann ein Geräusch wie raschelndes Papier.
– Leo?
– Raisa.
Seine Stimme klang verzerrt, kaum wiederzuerkennen. Sie drückte den Hörer fest ans Ohr, damit ihr kein Ton entging. Es kostete sie Beherrschung, ihm nicht einfach das Herz auszuschütten, aber sie musste sich vorsehen und an die Lügen denken, die sie erzählt hatte, um den Anruf durchzubringen.
– Was macht dein Vater? Geht es ihm besser?
Dann kam eine lange Pause. Unter den Umständen war sie schwer zu interpretieren – war Leo verwirrt, oder lag es an der Leitung? Schließlich antwortete er:
– Mein Vater ist immer noch krank. Aber sein Zustand hat sich nicht verschlechtert.
Sie lächelte: Leo hatte nicht nur erkannt, dass die Lüge ein Vorwand war, um ihn anzurufen, er hatte ihr gleichzeitig eine
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