Agent 6
ein zartes, ausgenutztes weißes Mädchen, das sich nach einer schäbigen Bettgeschichte von einem lüsternen, alten Neger verabschiedete.
Osip senkte beschämt den Kopf und betrachtete seine faltigen Hände, mit denen er die Fotos hielt. Es war interessant, dass er immer noch Scham empfinden konnte. Er war innerlich noch nicht ganz tot, zwar betäubt vom Opium, aber sich noch bewusst, wenn er versagte. Dieses Leben hatte er nicht gesucht, als er nach Amerika gekommen war, er hätte nicht gedacht, dass er einen Mann verleumden würde, den er bewunderte, einen durch und durch integren Mann.
Vor langer Zeit hatte auch Osip Integrität besessen. Er arbeitete zwar als Spion, aber in Wahrheit verspürte er keine Liebe für die Sowjetunion, sondern nur eine große Zuneigung für das Land, das er verriet. Er löste diesen Widerspruch zumindest teilweise auf, indem er Opium rauchte – was viel half – und sich Dinge schönredete – was nur ein wenig half. Als er als junger Mann nach New York gekommen war, war er sicher gewesen, er hätte das Zeug zum Erfolg. Er war auch erfolgreich gewesen, aber nicht so, wie er es erwartet hatte. Im Alter von neunundfünfzig Jahren gehörte Osip zu den dienstältesten sowjetischen Spionen, die beim Hauptfeind , wie Spione die USA nannten, eingesetzt waren.
Vor vierzig Jahren hatte Osip als ehrgeiziger Neunzehnjähriger in der Ukraine gelebt, hatte die Universität Kiew besucht und gehofft, sein Leben an der Hochschule zu verbringen. Aber die Vorurteile, denen er begegnete – seine Zimmertür wurde beschmiert, jemand ritzte den Davidstern hinein, seine Dozenten missachteten ihn –, zeigten deutlich, dass er niemals eine Professur erhalten würde. In seinem kalten Zimmer mit Blick auf die schneebedeckte Straße konnte er sich in Kiew keine Zukunft für sich vorstellen. Da ihn keine Familie in der Stadt hielt, beschloss er zu gehen, weniger aus Angst als aus dem festen Willen heraus, sein Potential auszuschöpfen. Ursprünglich hatte er nach Frankreich reisen wollen. Aber als er Kiew verließ, war es, als wäre er von einer Klippe gesprungen und im Meer gelandet, als würde er von den Wellen getragen und hätte keinen Einfluss mehr auf die Richtung. Am Ende wurde er ans Ufer des amerikanischen Konsulats im lettischen Riga gespült, verbrachte zwei Tage im Haus für Emigranten und musste eine Untersuchung und eine Desinfektion über sich ergehen lassen. Seine gesamten weltlichen Ersparnisse hatte er an die Firma Sowtorgflor gezahlt, die sich auf Reisen für Emigranten spezialisiert hatte. Sechs Monate nachdem er beschlossen hatte, aus Kiew wegzugehen, bestieg er mit den Reisepapieren und seinem ärztliches Zeugnis in der Hand ein Schiff. Zum ersten Mal konnte er sich wieder eine Zukunft vorstellen: Seine Zukunft war New York.
Er kam 1934 dort an – zum schlechtesten Zeitpunkt seit Menschengedenken, wenn man eine Arbeit suchte. Erschwerend kam hinzu, dass er nur geistige und keinerlei praktische Fähigkeiten besaß. Außerdem hatte er sein Studium nicht abgeschlossen, was bedeutete, dass ihm nur Stellen als ungelernter Arbeiter offenstanden, und dort konnte er körperlich nicht mit dem Heer an verzweifelten Arbeitssuchenden mithalten. Aus dem Fenster der Absteige, die er sich mit fünf anderen Männern teilte, sah er die Gewerkschaft der Arbeitslosen durch die Straßen ziehen, Reihen von Arbeitern ohne feste Stelle, die sich träge auf dem Broadway Richtung Süden schoben. Ein paar Jahre lang schlug er sich verzweifelt und notdürftig durch und lebte von der Hand in den Mund, bis er zufällig kommunistischen Aktivisten über den Weg lief, die sich die Ernüchterung der Arbeitslosen zunutze machen wollten. Sein Überlebensinstinkt hatte das Ruder übernommen, und weil er eine Chance witterte, sprach er die Aktivisten an und erzählte ihnen seine Geschichte. Als Juden, der fließend Russisch sprach, unterstellten sie ihm gleich einen angeborenen Hang zum Kommunismus. Er log über die Gründe, die ihn zum Verlassen der Sowjetunion bewegt hatten, und erklärte, er wäre mitten in der Weltwirtschaftskrise in die USA gereist, weil er überzeugt davon war, dass die kapitalistische Gesellschaft in einer Krise steckte, und er eine Revolution anheizen wollte. Sprache, Parolen, Sprüche und Theorie waren ihm so vertraut, dass er sein Publikum blenden konnte. Die Kommunistische Partei der USA befand sich damals, ohne es zu ahnen, auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs. Der Kommunistische
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